Internationals go Greifswald

Lucia Federici

 

Studium im Heimatland

Diplom am Matilde di Canossa Institut, Universität Parma, Italien

Activity in Greifswald

Erasmus+ und Praktikum beim Pommerschen Landesmuseum

Zeitraum

Oktober 2017 – Juli 2018

Warum ich nach Deutschland gekommen bin?

"Ich wollte schon lange ein Erasmus+ Semester in Deutschland machen, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern und wegen des Landes selbst. Ich habe Greifswald gewählt, weil es so weit im Norden liegt und eine grüne Umgebung hat."

ALLEIN – EIN ALL

 

Ein indisches Sprichwort besagt: „Wenn man reist, um Länder zu entdecken, wird man den Kontinent in sich selbst finden". Ich habe dieses Zitat viele Male gelesen ohne seine Bedeutung zu verstehen. Nach einem Jahr in Deutschland verstehe ich sie.

Ich verließ Italien mit der Vorfreude eines Schatzsuchers, der auf der Suche nach den kostbarsten Reliquien ist oder wie ein furchtloser Seemann, der bereit ist, die finstersten und entferntesten Gewässer der Erde zu durchqueren. Ich dachte, ich hätte meinen Fuß in ein Land gesetzt, das ich verändern könnte wie ich es gerne hätte und das sich meinem Leben anpassen würde. Dumm ist aber derjenige, der denkt, durch die Welt zu spazieren und sie zu verändern, ohne sich selbst zu verändern, denn die meiste Zeit geschieht das Gegenteil.

Es beginnt mit einem Koffer voller Kleidung und Essen, weil man denkt, dass die einzige offensichtliche Umstellung ein anderes Klima oder eine unterschiedliche Ernährung sei. Doch sobald man dort angekommen ist merkt man, dass dieser Koffer tatsächlich Firlefanz  im Vergleich zu dem ist, was man wirklich vermisst: die Zuneigung der Menschen, die man liebt. Menschen sind keine Pflanzen, aber wie sie, sobald sie von ihrem Wuchsort entwurzelt werden, fangen sie an zu leiden, als ob ein Teil ihrer Energiequelle in dem Boden bleibt, der sie die ganze Zeit beherbergt hat.

Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie auf dem Heimweg von einer langen Reise müde und begierig auf ein heißes Bad sind und bereits das Erblicken des Ortsschilds ein Gefühl von Zuhause vermittelt? Haben Sie Ihre Stadt schon einmal aus der Perspektive einer Frau gesehen, die einen angeschlagenen Soldaten, der aus dem Krieg zurückkehrt, mit einer Umarmung begrüßt?

Ein Erasmus-Auslandsaufenthalt lässt sich wie folgt beschreiben: ein Abenteuer, das uns fast als Kinder zurückkehren lässt und uns herausfordert seine Heimat, Freundschaften und Sprache neu zu definieren. Und plötzlich wachsen wir über uns selbst hinaus. Am Ende haben wir einen Koffer in der Hand, der nicht mehr mit Kleidung, sondern mit Emotionen, Erinnerungen und Geschichten gefüllt ist.

Ich erinnere mich noch gut an das mulmige Gefühl, das ich gegenüber jener Sprache verspürt hatte, die ich so sehr geliebt und  gelernt hatte. Ich hatte ständig Angst, dass ich nicht verstehe was Menschen zu mir sagen und, dass ich nicht in der Lage sein werde, die Dinge so auszudrücken, wie ich sie meinte. Es war, als ob man zwei Bahnhofsanzeigetafeln im Kopf hätte. Aber anstatt Ankunft und Abfahrt der Züge anzuzeigen, zeigten meine Tafeln eine deutsche und eine entsprechende italienische Übersetzung an. Es war, als ob mir jemand sagte, ich solle mein Schiff gegen einen Eisberg lenken, der zerbricht und ich ruhig fahren kann; aber der Gedanke, die Bremsen loszulassen und die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren, schreckt uns so sehr ab, dass wir schon von Anfang an vorsichtig fahren. Jetzt nach zehn Monaten sehe ich wie dieser Prozess, der teils sehr ermüdend war, mir die Möglichkeit gegeben hat eine Sprache zu sprechen, die nicht meine Muttersprache ist.

Man muss versuchen alles loszulassen was einen davon abhält seine Ziele zu erreichen. Ich beobachtete achtsam meine persönlichen Grenzen und erkannte wie meine Erziehung, meine Erfahrungen  und Gedanken mein Handeln und Sein beeinflussten. Bisher zeigte der Nordpfeil meines Kompasses immer auf die Person, die meine Mahlzeiten vorbereitete, meine Kleidung wusch und die mir bei allem half. Heute stelle ich fest, dass der Norden des Kompasses eigentlich den Weg anzeigt, den wir gehen möchten. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht um Andere sorgen, sondern, dass wir in erster Linie unsere Wünsche und Bedürfnisse durch unseren Willen und unsere Entschlossenheit erreichen können.

Ich konnte sehen wie sehr sich ein Mensch in einem Jahr verändern kann oder besser gesagt, wie sehr ein Mensch reifer werden kann. Ich erfuhr wie die Leute, die man auf seiner Reise trifft, kommen und gehen. Ich habe Freundschaften geknüpft, die mir so wichtig sind wie die Freunde, die ich in Italien zurückgelassen hatte. Ich spürte wie mein Herz durch die beinahe übermächtige Liebe, die ich für bestimmte Menschen empfand, stetig wuchs.

Aber manchmal lässt uns die Liebe, die wir für dieselben Leute empfinden glauben, dass wir das Privileg haben sie auf unbestimmte Zeit bei uns zu haben. In der Tat sind alle Bindungen, wie auch das Leben und seine Erfahrungen, mehr wie einer jener klassischen Tänze, in denen man, während man sich um sich selbst dreht, die Person mit der man tanzt wechselt, ohne um Erlaubnis zu fragen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir in Wirklichkeit nicht akzeptieren wollen, dass jemand oder etwas den Tanz beendet, weil wir die Angst haben, den Rhythmus zu verlieren. Die Fähigkeit, die wir alle suchen, ist Andere frei zu lassen. Aber wenn wir uns selbst nicht freilassen gehen wir womöglich einen Weg, der uns zu dem gleichen Punkt führt von dem wir losgegangen sind.

Meine Erfahrung mit Erasmus hat mir geholfen Folgendes zu erkennen:  wenn man aus seinem alltäglichen Leben ausbricht, wird man sich verändern. Jedoch nicht, weil der neue Ort so unterschiedlich ist, sondern, weil man alles aus einer bewussteren Perspektive betrachtet. Es ist als ob man die Erdumlaufbahn verlässt und zum ersten Mal in der Lage ist die Welt von oben zu betrachten und dabei feststellt, dass es daneben auch noch andere Planeten gibt. Es ist, als ob mir jemand eine Enzyklopädie auf Arabisch, Deutsch, Französisch und Spanisch gegeben hat und ich erst nach dem Lesen bemerke, dass der Titel meinen Namen beinhaltet. Während wir in den Fußabdrücken eines Ausländers laufen, verstehen und lernen wir nicht nur etwas mehr über Unterschiede, sondern auch über unsere eigene Individualität. All diese Erfahrungen schaffen eine Art Verflechtung verschiedener Schicksale von denen wir einen Teil in unser eigenes Mosaik einfügen können.

Reisen bedeutet an einer Kreuzung zu sitzen, das Hin und Her von Autos und Menschen zu beobachten und das Voranschreiten der Zeit zu spüren. Es ist dasselbe, wie sich dem Chaos hinzugeben und den Anker der Ordnung auszuwerfen. Oder wie der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche sagte: „Die Ordnung ist notwendig, um nicht verloren zu gehen, die Unordnung, um sich selbst zu finden". Man kann demnach von Wechselhaftigkeit verknüpft mit schönen Erinnerungen profitieren. Der Prozess des Lernens hängt vom Einfluss ab, den die Umwelt auf das Individuum ausübt und von der Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt.

Ich schreibe, um mit meinen Erfahrungen Menschen (vor allem jungen Menschen) zu ermutigen, über die oberflächliche Bejahung hinauszugehen, ihre Handlungen zu reflektieren und zu hinterfragen was man tut oder studiert, um die Freude an der Kommunikation zu entdecken. Interesse entsteht dort wo Menschen Interesse zeigen. Doch manchmal überdenken wir bestimmte Dinge und man übersieht womöglich die Dinge, die direkt um einen herum passieren.

Wenn man das deutsche Adjektiv "allein" in der Mitte trennt und die Silben vertauscht, erhält man „ein all“. Man kann sich oft allein fühlen, zum Beispiel, wenn man missverstanden wird oder sich in einer schwierigen Situation befindet. Aber aus diesen Schwierigkeiten lernen wir zu erkennen, wie die empfundene Einsamkeit eine Seite derselben Medaille ist, die "Gesamtheit" genannt wird.
Nachdem wir alles auf das Wesentliche herunterbrechen, sind wir in der Lage eine Synthese zu erstellen. Der Mensch ist ein bisschen wie ein Oxymoron: eine totalisierende Singularität, ein einsamer Berg, der sich mit Anderen verbrüdern möchte, um eine Kette formen. Dies habe ich mit Menschen und Orten versucht, die ich zuvor nicht kannte.

Ich schreibe, um meine Erfahrungen in Worte zu fassen und in der Lage zu sein das Fenster in meinem Herzen wieder zu öffnen, das mir so viel gegeben hat: von magischen und euphorischen Momenten bis hin zu Momenten absoluter Zerbrechlichkeit. Jede Stadt hat wunderbare und gleichzeitig weniger schöne Orte. Ihre Schönheit ist das Ergebnis ihrer Gesamtheit.

Lucia Federici