Julius Fitzke

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Studium in Greifswald
Geographie (B.Sc.) mit Nebenfach Slawistik


Aktivität im Ausland
Hochschulaustausch an der staatlichen Universität Kemerowo, Russland

Zeitraum
Februar 2019 - Dezember 2020

Wieso ich ins Ausland gegangen bin?
„Russisch lernen, die Taiga, und Sibirien entdecken und Neues erleben."


Zwischen Altai und Baikalsee

Erfahrungsbericht über ein Jahr Kemerowo

Ein paar Impressionen aus dem Kurswagen nach Kemerowo, in dem ich drei Nächte verbrachte. Es herrschte eine sehr entspannte, wohnzimmerhafte Atmosphäre…
Meine Anreise ins sibirische Kemerowo trat ich Anfang Februar mit dem Zug an, über Warschau, Kiew und Moskau. Von dort fuhr ich mit der transsibirischen Eisenbahn weiter bis nach Kemerowo. Hier der Halt am Bahnhof einer sibirischen Kleinstadt.
Ankunft in Kemerowo. Auf dem Sowjetplatz stehen Dutzende Eisskulpturen, eine winterliche Tradition, die in vielen sibirischen Städten existiert. Aus einem nahen See herausgeschlagene Eisbrocken werden mit der Motorsäge bearbeitet und stehen monatelang im Zentrum. Sogar ein großes Schloss für Kinder mit Eisrutsche gibt es (links im Bild).
Ich unternehme erste Spaziergänge, die Stadt ist tief verschneit, die Schlafstädte mit ihren riesigen Plattenbauten scheinen mir schier endlos.
Der Tom ist ein mehrere hundert Meter breiter Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilt. Im Winter ist er zugefroren und begehbar, dann schlagen dort Eisfischer ihre Zelte auf, bohren Löcher ins Eis, wie es hier im Bild der kleine Junge versucht, und angeln.
Mein Wohnheimzimmer ist recht klein und rustikal. Dafür ist die Miete nahezu kostenlos, der Flur voller netter Studenten und die Tapete einfach beeindruckend.
Ende März beginnen die Schneemassen langsam zu tauen. Es beginnt eine Übergangsphase zum lang ersehnten Frühling, die die Stadt mit Unmengen schmutzigen Schmelzwassers übergießt.
Das Eis auf dem Tom braucht sehr lange, um zu schmelzen. Wochenlang treiben stetig kleiner werdende Eisschollen auf dem Fluss.
Trotz Corona sind Nachtclubs und Kneipen, abgesehen von einem Minilockdown im März, weitestgehend geöffnet, ein Umstand, um den mich Freunde aus Deutschland beneiden. Denn in Russland geht man die Pandemie deutlich lockerer an.
Im April setzt der Frühling nach halbjährigem Winter mit erstaunlicher Kraft ein. Alles blüht und erwacht zum Leben. Wegen Corona ist der Unialltag schwer durcheinander geraten, ich habe massig Zeit, unternehme Ausflüge in die umliegenden, völlig abgeschiedenen Dörfer.
Im Mai hat Kemerowo Deutschland auf dem Thermometer deutlich überholt. Es ist lange hell, die Nächte mild und die Tage heiß. Mit Freunden fahren wir oft zum Tom, einige Kilometer aus der Stadt raus an abgelegene Badestrände.
Ein anbrechender Morgen in Kemerowo
Nachdem der Schnee getaut war, hatte ich mir ein Fahrrad gekauft, fahre durch die wunderschöne Natur, die Kemerowo umgibt, und durch abgeschiedene Dörfchen.
Kemerowo ist nicht nur die Hauptstadt eines der größten Kohlereviere der Welt, hier ist auch viel chemische Industrie angesiedelt. Einerseits bildet die lokale Industrie eine wichtige wirtschaftliche Stütze, andererseits belastet sie die Umwelt nicht unerheblich und sorgt bei schlechter Wetterlage für beißenden Smog. Links sieht man die Kokereien und das größte Stickstoffwerk Russlands, rechts einen Badesee in der Nähe der Stadt.
Im Juni setzt Hochsommer ein, die Tage sind brütend heiß, immer wieder fahre ich an den Wochenenden raus auf die Datscha von Freunden.
Nicht alle sind so radfahrbegeistert wie ich. Die meisten Überredungsversuche scheitern, und wenn jemand Lust hat, mitzukommen, dann oft nur, um die Uferpromenade hin- und herzufahren. Auf dieser Promenade tummelt sich an warmen Tagen die ganze Stadt, sie gehört zu den schönsten Orten Kemerowos.
Anfang Juli ziehe ich in eine eigene Wohnung um, denn das Leben im Wohnheim hat auch Nachteile. Es gibt dort viele strenge Regeln, Besuchsverbot und hin und wieder pandemiebedingte nächtliche Ausgangssperren. Für etwas mehr Freiheit ziehe ich in eine eigene Wohnung auf dem Boulevard der Bauarbeiter um. In (1) sieht man mein Haus, rot markiert mein Zimmerfenster. Der Block ist riesig, über 600 Mietparteien. In (2) die Eingangshalle mit dem hauseigenen schwarzen Brett, (3) der Aufgang, (4) mein Flur, (5) die Wohnung im Ursprungszustand. Sechs Stockbetten stehen noch drin, denn meine Vormieter waren zwölf usbekische Gastarbeiter. Im letzten Bild schließlich meine Wohnung, nach dem ich aufgeräumt und Möbel gekauft habe.
Die Sommerferien haben begonnen, ich reise für eineinhalb Wochen ins 1500 Kilometer entfernte Tjumen, um meine Brieffreundin zu besuchen, die ich von einer Austauschseite für Deutschlerner kannte. Das Timing ist gut, ich komme gerade rechtzeitig zur Übergabezeremonie ihres Masterzeugnisses…
Im August reise ich ins Altaigebirge und gehe einige Tage wandern und zelten in den Bergen. Das Panorama und die Natur sind einzigartig, das Altai zählt zu den abgelegensten Gegenden in Russland.
Hier zu sehen mein Nachtlager. Am Morgen haben sich einige Wildpferde dazugesellt.
Im September beginnt das neue Semester, die Lehre erfolgt vorerst in Präsenz, bis die Fallzahlen zu hoch sind und man nach einigen Wochen wieder auf Onlinelehre umschaltet. Doch davor findet noch das alljährliche Fest der deutschen Tage an der Uni statt. Als einziger Deutscher an der Uni muss ich zahlreiche Vorträge halten, über Russland und Sibirien aus Sicht eines Deutschen.

Das gesamte letzte Jahr habe ich im sibirischen Kemerowo verbracht, einer Industrietadt mit einer halben Millionen Einwohner*innen, gelegen im südsibirischen Kusnetzker Becken, unweit des Altaigebirges und Nowosibirsk. Nachfolgend möchte ich erzählen, wie es mir dort ergangen ist und orientiere mich dabei zum Teil an meinem offiziellen Erfahrungsbericht.

  • Warum nach Kemerowo? Ein paar Eckdaten vorweg
  • Organisatorisches
  • Wohnen
  • Mein Unialltag
  • Das Russische
  • Mein Leben in Kemerowo
  • Das Wetter
  • Was man noch über Russland erzählen kann
  • Tipps für Interessierte

 

Warum nach Kemerowo? Ein paar Eckdaten vorweg

Aufgrund zahlreicher Reisen in die Länder der ehemaligen Sowjetunion, also bspw. in die Ukraine, nach Moldawien oder Georgien, hege ich ein großes Interesse für den russischen Kulturraum, der mich schließlich auch dazu gebracht hat, als Wahlpflichtfach Slawistik zu belegen und Russisch zu lernen. Als ich dann von den verschiedenen Austauschmöglichkeiten für die Geographiestudenten erfuhr, unter denen sich neben Kaliningrad und St. Petersburg auch Kemerowo befand, entschloss ich mich, ein Austauschjahr in Sibirien zu verbringen. Mein erstes Semester wurde durch ein Erasmus+-Stipendium gefördert, da eine reguläre Aufenthaltsdauer von nur einem Semester vorgesehen ist. Doch ich hatte von vornherein entschieden, für ein ganzes Jahr in Russland zu bleiben, da ich glaubte, dass ein halbes Jahr in vielen Fällen nicht ausreichen würde, um einen geübten Umgang mit der Fremdsprache zu erlangen, sich an die anderen Lebensumstände zu gewöhnen und sich eine Existenz aufzubauen, sich zu integrieren, Freund- und Bekanntschaften zu knüpfen. Für das zweite Semester erhielt ich noch eine Förderung über Promos.

Beweggründe gab es viele: Ich hatte mein Geographiestudium in Greifswald schon zu großen Teilen abgeschlossen, wusste daher, dass ich meinen Alltag dort sehr frei würde gestalten können, ohne den Druck offener Prüfungen oder abzuschließender Seminare. Vor allem wollte ich mein Russisch verbessern und fließend sprechen können, auch weil ich ab und an mit dem Gedanken spiele, später einmal im russischsprachigen Raum zu arbeiten und zu leben.

Persönlicher Beweggrund war natürlich vor allem mein starkes Interesse an Russland und mein Wunsch, mit dem Erlernen der russischen Sprache tiefer in die dortige Kultur eintauchen zu können. Daher auch mein Wunsch, ausgerechnet ins sibirische Kemerowo zu fahren, nicht etwa nach St. Petersburg: Ich habe mir eine authentische und sehr besondere Erfahrung versprochen, eben weil die Stadt so fernab von Europa liegt, tief in Sibirien, weit weg von bedeutenden Zentren Russlands, die allesamt im europäischen Landesteil verortet sind. Außerdem war ich mir sicher, dass es in Kemerowo nur wenig europäische Austauschstudenten geben würde, ich mich also ausschließlich mit Russ*innen würde anfreunden müssen. Und genau das ist auch der Fall gewesen.

 

Organisatorisches

Der Bewerbungsprozess ist machbar, allerdings recht langwierig und einhergehend mit einigen Schwierigkeiten. Während der Bewerbungsprozess auf deutscher Seite über das International Office sehr geregelt verlief, waren die Belange auf russischer Seite deutlich schwieriger zu klären. Mein Visum habe ich über eine Berliner Agentur erhalten, wo ich sehr gut beraten wurde, allerdings wartete ich wochenlang auf eine für das Visum notwendige Einladung der russischen Behörden. Dies hätte beinahe nicht geklappt, weil ich bei der Angabe meiner Passnummer die Zahl 0 mit dem Buchstaben O verwechselt habe. Um ein Haar hätte sich meine Abreise wegen dieses Schreibfehlers um mehrere Wochen verzögert.

Eben wegen dieses nicht ganz einfachen und langwierigen Prozesses ist es aus meiner Sicht ratsam, so früh wie möglich mit der Vorbereitung zu beginnen. So traf mein Visum quasi in letzter Sekunde ein, nur eine Woche vor der Abfahrt nach Russland. Zudem erhält man das erste Visum lediglich für neunzig Tage, es muss vor Ort verlängert werden. Doch das International Office in Kemerowo hat sich der Sache angenommen.

Anfallende Kosten ließen sich mit dem recht großzügigen Stipendium von Erasmus+ und PROMOS problemlos decken, so auch die Anreise, die ich auf günstigerem, aber auch sehr langwierigem Wege absolvierte, nämlich mit dem Zug, was von Greifswald aus eine gute Woche dauerte. Ich reiste über Warschau bis an die polnisch-ukrainische Grenze, wo ich mit Schlafzügen über Kiew nach Moskau reiste. Nach einigen Tagen Hauptstadtbesichtigung ging es mit der transsibirischen Eisenbahn dreieinhalb Tage bis Kemerowo weiter.

Vor Ort wurde ich dann von einer Studentin der Deutschfakultät abgeholt, die mir eine SIM-Karte besorgte und mich in mein Wohnheim brachte.

 

Wohnen

Ich habe im Wohnheim für Ausländer*innen gewohnt, wobei zu beachten ist, dass in Kemerowo wenig bis keine europäischen Ausländer*innen studieren. Die Bewohner*innen waren zu größten Teilen Studierende aus dem russischsprachigen Ausland der ehemaligen Sowjetunion, also aus Kasachstan, Usbekistan usw. Wenngleich die Wohnheimzimmer unglaublich günstig sind (ich zahlte monatlich umgerechnet etwa fünf Euro), so entspricht die Unterbringung nicht deutschem Standard. Der Eingang wird von Wachpersonal kontrolliert, bei Betreten und Verlassen des Wohnheims muss man sich mit seinem Studentenausweis registrieren und durch ein Drehkreuz gehen. Nächtliches Verlassen des Wohnheims und auswärtiger Besuch sind nur eingeschränkt möglich. Ich konnte durch einen riesigen Zufall nach den ersten paar Wochen in ein Einzelzimmer umziehen, allerdings ist das die absolute Ausnahme, die meisten Studierenden wohnen wenigstens zu zweit, wenn nicht gar zu dritt oder zu viert in ihren Zimmern, was vor allem am Anfang eine gewaltige Umgewöhnung bedeutet, aber natürlich auch Chancen birgt.

Nach einigen Monaten beschloss ich, hauptsächlich wegen des enormen Zuwachses an persönlichen Freiheiten, eine eigene Wohnung zu mieten. Denn im Wohnheim wird das Treiben der Studenten recht akribisch von rund um die Uhr am Eingang sitzendem Wachpersonal kontrolliert, es existieren Sperrstunden und strenge Hausregeln, die ich irgendwann als doch etwas einschränkend empfand. Wenngleich man mir als Ausländer*innen etwas Nachsicht entgegenbrachte, herrschte bei Regelverstößen eine rigorose Strafpolitik. Deutlich wird dies am Beispiel eines Kommilitonen, der eines Abends leicht angetrunken ins Wohnheim zurückkehrte. Das ist offiziell verboten, er wurde abgemahnt und ihm beim nächsten Vorkommnis mit der Exmatrikulation gedroht.

Allerdings war die Wohnungssuche sehr schwer zu realisieren: Zwar gibt es ausreichend günstigen Wohnraum, doch da die Vermieter*innen verpflichtet sind, ausländische Mieter*innen offiziell behördlich zu registrieren, ist die Mehrheit nicht willig, an Ausländer*innen zu vermieten. Den Aufwand, den ich trieb, um doch eine Wohnung zu ergattern, grenzte an Detektivarbeit. Ich hörte von vor Jahren in Kemerowo gewesenen Italienern, die eine Wohnung angemietet hatten, grub mich durch Archive alter Studentenzeitungen, um ihre Namen herauszufinden, da Ausländer für die Leserschaft regelmäßig interviewt werden. Es gelang mir, die Namen der Italiener herauszufinden und sie zu kontaktieren, sie vermittelten mich an eine Wohnungsagentur, die sich auf Ausländer*innen spezialisiert hatte aber wegen Corona pleite war. Man leitete mich weiter an andere Agenturen, wo mir schließlich eine Sachbearbeiterin den Kontakt zu einer alten Schulfreundin herstellte. Deren Mutter hatte nämlich noch eine leerstehende Wohnung aus Sowjetzeiten, sie würde den Behörden gegen ein Entgelt erzählen, ich sei dort eingezogen, da ich ein entfernter Verwandter aus Deutschland von ihr sei. So kam ich an meinen offiziellen behördlichen Registrierungsschein und konnte mir schlussendlich eine Wohnung mieten, was einen großen Zuwachs an Lebensqualität für mich bedeutete.

Ansprechpartner vor Ort waren Frau Smirnova aus der Deutschfakultät, die stets eine wertvolle Hilfe war. Für alle bürokratischen Belange ist Frau Yakimova vom dortigen International Office zuständig, ebenfalls sehr bemüht, aufgrund geringer personeller Kapazitäten allerdings auch sehr stark ausgelastet.

 

Mein Unialltag

Der Empfang und die Einführung in den dortigen Unialltag waren sehr herzlich, allerdings muss ich hinzufügen, dass ich in meinen elf Monaten nicht allzu viele wirklich repräsentative Unialltagserfahrungen machen konnte, denn schon wenige Wochen nach meiner Ankunft wurde die Uni geschlossen und wegen der Coronapandemie auf Fernunterricht umgestellt. Zu Beginn des zweiten Semesters im September öffnete man die Uni zwar probeweise, dies hielt jedoch nur wenige Wochen vor, dann wurde wegen eines Anstieges der Infektionszahlen wieder geschlossen. Alles in allem hatte ich acht oder neun Wochen regulär Uni.

Mein Stundenplan war sehr durchmischt, da ich nicht, wie die anderen Studenten, einer bestimmten Gruppe angehörte, sondern meinen Stundenplan, den verbleibenden Prüfungsleistungen, Wahlpflichtfächern und persönlichen Interessen entsprechend, recht bunt aus den Fakultäten der Psychologie, Geschichte, Geografie, Geologie, des Tourismus und der Sprachwissenschaften zusammengestellt hatte. Im coronabedingten Chaos ging mein Stundenplan jedoch ein wenig unter, Vorlesungen fielen aus, wurden verschoben usw. Ich als Neuankömmling verstand die sehr spontanen Veränderungen nicht immer oder wurde nicht entsprechend informiert, was letztendlich in meinen beiden Semestern zu relativ viel Freizeit führte. Im zweiten Semester hatte ich teilweise nicht mehr als zwei Onlinevorlesungen pro Woche.

Dennoch unterscheidet sich das Unisystem in vielerlei Hinsicht von den deutschen Universitäten: Ein großer Unterschied zum Beispiel ist, dass man eine Veranstaltung ohne eine abschließende Prüfung bestehen kann, wenn man während des Semesters fleißig ist und gut mitarbeitet. Außerdem wird in vielen Veranstaltungen mehr auf schlichtes Auswendiglernen gesetzt: So bestand eine Geschichtsvorlesung bspw. aus einem ewigen Diktat: Die Professorin las aus einem Geschichtsbuch vor, Satz für Satz, die Studierenden schrieben jedes Wort mit. Ebenfalls neu für mich als Geographiestudent war die geballte Vermittlung topographischen Wissens, etwa das Auswendiglernen hunderter russischer Inseln, in einem Kurs, den ich dann verließ, als sich eine derartige Vorbereitung abzeichnete. Reine Topographie wird in Deutschland kaum bis gar nicht gelehrt, eher als Allgemeinwissen vorausgesetzt.

Zudem ist der Ton ein wenig rauer, was das Verhältnis zwischen Dozierenden und Studierenden angeht. Die Hierarchien sind deutlich ausgeprägt, Studierende werden vergleichsweise streng behandelt. Illustrierend hier die Geschichte, die mir eine medizinstudierende Freundin erzählte. Sie hatte ein Anatomieseminar bei einer alten, sehr strengen Dozentin, die zum Anfang jedes Seminars einige Kontrollfragen vorbereitete. Ein unaufmerksamer Student überhörte die Frage, als er drangenommen wurde, die Professorin packte ihn am Ohr, ging mit ihm nach draußen in den Innenhof. Es war Januar, -40 Grad, alles tief verschneit, ein einsamer Hausmeister gerade mit Schneeschippen beschäftigt. Die Professorin nahm dem Mann die Schippe aus der Hand, sagte, er habe jetzt Feierabend und überreichte sie dem Studenten, welcher unter ihren Worten, dazu tauge er gerade noch, die nächsten Stunden den Hof vom Schnee befreite. Das war eine Geschichte, die mich tief beeindruckt hatte, natürlich stellt sie dennoch die Ausnahme dar.

Auffällig fand ich stets, wie gut sich die Studentenschaft kleidete. Die Studenten herausgeputzt, nicht selten in gebügelten Hemden, Studentinnen in Pelzmänteln, schicken Kleidern und Lederstiefeln.

 

Das Russische

Ich habe in Greifswald bereits drei Semester lang Russisch gelernt, bis zur Niveaustufe B1. Da ich jedoch über keinerlei praktische Spracherfahrung verfügte, war es anfangs doch recht mühsam, die Sprache praktisch anzuwenden und sich im Hochschulalltag zurecht zu finden. Denn sämtliche Vorlesungen finden auf Russisch statt, auch die Fremdsprachenkenntnisse der Studenten sind eher begrenzt und umfassen meistens allenfalls ein sehr rudimentäres Englisch, manchmal nicht einmal das. Das gilt natürlich nicht für die Studierenden der Philologie, die eine oder sogar mehrere Fremdsprachen lernen. Doch ohnehin versuchte ich gar nicht erst, mit anderen Studierenden auf Englisch oder Deutsch zu sprechen, sondern befand, am besten sei es, direkt ins kalte Wasser zu springen.

Zwar wird ein Sprachkurs für ausländische Studierende angeboten, dieser findet jedoch auf der Niveaustufe A1 statt, der für mich aufgrund meiner Kenntnisse auf B-Niveau eher ungeeignet war.

Allerdings war meine Wahl ja auch aus dem Grunde auf die Stadt Kemerowo gefallen, dass ich mir erhofft hatte, dort quasi ausschließlich Russisch sprechen zu müssen, eben gerade weil es dort kaum andere Ausländer*innen gibt. Diese Vermutung hat sich vollständig bewahrheitet: Russisch ist in meinem Alltag omnipräsent gewesen, es gab wenig bis keine Möglichkeiten, sich auf Englisch oder Deutsch zu unterhalten. Meine Sprachfortschritte waren dadurch natürlich immens. Alles spielte sich auf Russisch ab, ob es Absprachen mit meiner Vermieterin waren, Kinobesuche, Treffen mit Freunden, große Runden an Kneipentischen oder Uniseminare.

Spätestens ab dem zweiten Semester konnte ich mühelos Unterhaltungen führen, auch solche, die über bloßen Smalltalk weit hinausgingen, geschichtliche Erörterungen aus der Sowjetunion etwa oder hochinteressante politische Debatten, Erklärungen von deutschen Wirtschaftspraktiken und so weiter. Mein Vokabular wuchs beständig und mit ihm die Fähigkeit, beim Fehlen eines Wortes schnell Synonyme oder kurze Umschreibungen zu finden, oder umgekehrt unbekannte vom Gesprächspartner verwendete Wörter intuitiv und eingebettet im Kontext verstehen zu können.

 

 

Mein Leben in Kemerowo

Mein Aufenthalt in Kemerowo war definitiv eine unschätzbare Erfahrung, die ich keinesfalls missen möchte, wenngleich mein Aufenthalt wegen der Coronakrise etwas anders verlaufen ist als anfangs erwartet. Doch glücklicherweise habe ich in den ersten drei Wochen, in welchen die Universität noch geöffnet war, guten Anschluss gefunden. Vielfach konnte ich die Offenheit zahlreicher offener und neugieriger Menschen schätzen lernen, die mir im Laufe der Zeit zahllose Facetten der russischen Kultur näher brachten. Aufgrund des durcheinandergeratenen Hochschulalltages hatte ich, wie ja bereits erwähnt, deutlich mehr Freizeit, als am Anfang abzusehen war. Da ich dadurch jedoch sehr viel Zeit für mein Sozialleben hatte und mein Hauptziel ja die Verbesserung meiner Sprachkenntnisse gewesen war, bin ich weit davon entfernt, diese Periode in irgendeiner Weise als verschwendet zu bezeichnen, da ich mit meinen Freunden ja ebenfalls ausschließlich Russisch sprach. Im Gegenteil, hätte die Uni regulär offen gehabt, hätte ich wahrscheinlich eine viel unfreiere und „normalere“ Zeit verlebt.

Es dauerte nicht lange, dass ich diese anfangs so kalte, tief verschneite und mir so abweisend scheinende Stadt sehr gerne zu haben begann. Wir machten Ausflüge in die wunderschöne Umgebung, verbrachten Zeit auf dem Sommerhaus einiger Freunde, auf zahllosen, langen Spaziergängen zeigte man mir jeden Winkel der Stadt, zahlreiche Wochenenden verbrachten wir in den behaglichen Plattenbauwohnungen von Bekannten, und auf diese Weise erlebte ich das Studenten-, Sozial- und Nachtleben der Stadt aus allererster Hand. Aber auch als großer Naturfreund kam ich, vor allem durch den Kauf eines Fahrrads, voll auf meine Kosten, denn hinter den Stadtgrenzen warten faktisch unendliche Weiten: riesige Wälder, hügelige Steppen- und Graslandschaften, das Altai im Süden: für den deutschen Betrachter, der diese schiere Weitläufigkeit nicht gewohnt ist, ist die hiesige Natur unglaublich beeindruckend und atemberaubend schön. Vor allem die herbstliche Taiga war schöner als alles, was ich je zuvor gesehen hatte.

Hinzu kamen die ersten fünf Monate im Wohnheim, welche ich, trotz zahlreicher strenger Regeln und Vorschriften, nicht missen möchte, denn aufgrund der Enge und Bewohnungsdichte sowie der Bedrängnisse und Unannehmlichkeiten eines hereinbrechenden ersten Lockdowns fand ich auch dort schnell Anschluss und ich lernte die Mentalitäten der zentralasiatischen Staaten kennen, die mir auf eine interessante Weise wie eine kulturelle Schnittstelle zwischen Russland und Asien erschienen. Für mich war das Wohnheimleben, aufgrund meines Einzelzimmers, überaus komfortabel, da ich mich frei entscheiden konnte, wann ich Gesellschaft haben wollte und wann nicht. Während des kurzen aber strengen ersten Lockdowns traf man sich jeden Abend, wir spielten Schach, Backgammon oder russische Kartenspiele, schauten Filme, knabberten Sonnenblumenkerne und zogen die Gänge zum Supermarkt – in jenen ersten Woche durfte das Wohnheim nur zum Einkaufen verlassen werden – soweit es ging in die Länge.

Doch trotz der geschlossenen Universität kamen auch aus anderen Quellen immer neue Bekanntschaften und Freundschaften hinzu, ob es das Wohnheim war, der kleine Kreis an Deutschlernern in der Stadt, bleibende Sympathie aus spontanen Straßenplaudereien, die sich immer wieder ergaben, Bekannte von Bekannten oder Brieffreundschaften, die ich nebenher mit einigen Studierenden aus dem ganzen Land unterhielt, wie zum Beispiel einer Wirtschaftsstudentin aus dem weit entfernten Tjumen, die ich dann im Sommer für eineinhalb Wochen besuchte. Denn ich hatte ja zwei Monate Sommerferien, den gesamten Juli und August, in denen ich ein paar Reisen unternahm, wie auch in die benachbarten Großstädte, nach Tomsk oder ins Altaigebirge.

Hinzu kam ein Kellerclub, das Vinyl. Ich ging dort oft mit Freunden hin, es war eine Kneipe, wo man stets mit spannenden Menschen ins Gespräch kam: chinesische LKW-Fahrer, die an den Wochenenden ihren Lohn vertranken, ein Söldner, der für eine Privatfirma arbeitete und zwischen Aleppo und Kemerowo pendelte oder ein alter Rentner, der in seiner Freizeit Schnaps brannte, der Kneipe veräußerte und dort regelmäßig prächtige Dinner veranstaltete. Der Gästekreis war sehr überschaubar, nach einer Weile kannte ich die meisten Stammgäste, saß mit ihnen am Tisch, spielte Schach oder feierte mit ihnen das beginnende Wochenenden zu den Klängen russischer Chansons.

 

Während im ersten Semester alles neu und meine Existenz noch im Aufbau begriffen war, so herrschten im zweiten Semester zunehmend Alltag und behagliche Routine. Ich habe nie bereut, mich für ein ganzes Jahr entschieden zu haben, denn im zweiten Semester hatte ich bereits Freund- und Bekanntschaften geschlossen, auf die ich mein Sozialleben gründen konnte, und durch die sich der Bekanntenkreis stetig erweiterte. Ich genoss das Gefühl, auf der Straße ständig Bekannte zu treffen und einen kurzen Plausch zu halten, auf Geburtstage und Urlaube eingeladen zu werden, Freunde in meine eigene Wohnung einladen zu können und mich integriert und angekommen zu fühlen, während ich mit meinem Russisch ständig sicherer und selbstverständlicher umgehen konnte. Hin und wieder unternahm ich kleine Tages- oder Wochenendreisen, wenn Freunde, die nicht aus Kemerowo sondern dem Umland kamen, mich zu sich nach Hause eingeladen hatten, um sie zu besuchen. Sie zeigten mir dann die Städte und Dörfer ihrer Kindheit und ich bekam ein spannendes Bild der sibirischen Provinz.

Hinzu kam, vor allem, um mich zu zerstreuen, dass ich im Laufe des zweiten Semesters verschiedenen Arbeitstätigkeiten nachging. So gab ich einem Sechstklässler Nachhilfe in Deutsch und wurde von der Mutter stets mit Säcken selbstgeernteter Kürbisse und roter Beete entlohnt, die ich mit Freunden zu leckeren Gerichten weiterverarbeitete. Bei den sibirischen Kampfkunstfestspielen arbeitete ich als Ordner in der Sporthalle mit, achtete auf den Abstand der Tribünengäste. Und in den Sommerferien ging ich mit zwei Bekannten aus Tadschikistan in einer Kuchenfabrik arbeiten, wo wir zwölfstündige Nachtschichten übernahmen und Seite an Seite mit alten, russischen Bäckersfrauen schufteten, während wir Unmengen kostenloser Biskuite und Torten verspeisten, die als Ausschuss anfielen. Es war eine skurrile Zeit, ich zerschlug hunderte Eier in großen Eiern und machte Glasur daraus, befüllte Biskuitröllchen mit Erdbeermarmelade und saß nachts um vier mit den Bäckerkolleginnen im kleinen Pausenraum, wo man mir von den Enkelkindern, den Ehemänner und den Datschen erzählte.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass sich meine Erfahrungen vollständig erfüllt haben und ich überaus glücklich mit meinem Leben in Kemerowo war. Wer die Zeit dafür mitbringt, dem kann ich ebenfalls empfehlen, zwei Semester im Ausland zu verbringen, da man am Anfang eben einige Zeit braucht, um sich an alles zu gewöhnen und sich einzuleben.

 

Das Wetter

Durch meinen fast einjährigen Aufenthalt habe ich jede Jahreszeit erleben dürfen, mit all ihren Vor- und Nachteilen. Die Jahreszeiten sind in Sibirien wesentlich stärker ausgeprägt als in Deutschland, die Sommer sehr trocken und unvorstellbar heiß, die Winter von unerbittlicher Härte. Doch jede Jahreszeit hatte ihre Vorteile: Die Winter sind geprägt von gewaltigen Schneemengen und furchtbarer Kälte, teils bis zu -45 Grad. Jeder Gang nach draußen wird zur Herausforderung, auch wenn man sich mit entsprechender Kleidung schnell daran gewöhnt. Und die rauen Naturschönheiten und die nahe Taiga sind in winterlicher Unberührtheit prachtvoll. Mitte März beginnt eine Zwischenstufe zwischen Winter und Frühling: Es beginnt zu tauen, die Stadt wird von massenhaft Schmelzwasser überschwemmt, alles ist schmutzig und dreckig. Bis es im April auf einmal merklich wärmer wird und der Frühling in Rekordtempo über die Stadt hereinbricht. Man merkt, wie sich die Stadtbewohner nach dem Frühling gesehnt haben, plötzlich sind die Straßen brechend voll mit Menschen, alte Rentnerinnen bepflanzen liebevoll die Hinterhöfe der Plattenbauten, die Parks erblühen, auf dem riesigen Fluss, der die Stadt durchzieht, treiben gewaltige Eisschollen, die mit der Zeit immer kleiner werden. Ab Juni beginnt ein heißer, trockener und staubiger Sommer. Meistens sind es über dreißig Grad, man entspannt sich beim Schaschlikbraten am Fluss, fährt zu den vielen nahen Badeseen oder verbringt die Wochenenden auf den ufernahen Sommerhäuser, derer jeder Stadtbewohner eines besitzt. Auch wir nutzten die Zeit, gingen zelten in der Nähe der Stadt, unternahmen Fahrradreisen und fuhren etliche Male zum „roten See“, dem größten Badesee der Stadt. Im September wird es Herbst. Diese Jahreszeit hat mich am meisten beeindruckt. Die weitläufigen Wälder vor den Toren der Stadt verwandeln sich in ein Meer aus Farben, buntes Herbstlaub treibt auf den Weihern, wir fuhren in die Taiga, um zu wandern und Pilze zu sammeln. Letzteres ist ein wahrer Volkssport unter der Stadtbevölkerung. Man streift stundenlang durch den Wald, liest Pilze auf, die überall zu finden sind. Nur muss man aufpassen, nicht die Orientierung zu verlieren, wir kamen auf einer Expedition vom Pfad ab und irrten stundenlang orientierungslos durch den Wald, vierzig Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt.

Mitte Oktober endete der kurze Herbst und der erste Schnee fiel. Anfangs blieb er noch nicht liegen, doch spätestens ab Anfang November war die Stadt vollkommen verschneit und die Temperaturen fielen stetig. Doch auch dieser hereinbrechenden Jahreszeit konnte ich viel abgewinnen. Nicht nur das Gefühl, abends in meine mollig warme Wohnung heimzukehren, dick eingepackt zeigte sich auch die Natur von ihrer besten Seite. Mit einer riesigen Thermoskanne voller Tee oder dampfendem Glühwein verbrachten wir so manchen Tag auch bei Minus dreißig Grad im Freien, durchstreiften die Taiga oder saßen gemeinsam in der Banja, der russischen Sauna zusammen. Auf dem großen Stadtplatz hatte man beeindruckende Eisskulpturen aufgestellt, sogar ein begehbares Eisschloss mit Rutsche und Türmchen für die Kinder gab es. Dennoch: die schlimmsten Wintermonate, Dezember und Januar, habe ich ausgespart und bedauere das auch nicht, da es in dieser Zeit wirklich extrem kalt ist. Hinzu kommt die Luftverschmutzung in der kalten Zeit, der Smog der Kokereien sackt ins Tal, dazu kommen die Abgase zehntausender Holz- und Kohleöfen, wenn die Bewohner am Stadtrand, die nicht an die städtische Heizungsinfrastruktur angeschlossen sind, mit dem Heizen beginnen. Aber diesen Jahreslauf einmal mitzuerleben, habe ich als sehr eindrucksvoll empfunden.

 

Was man noch über Russland erzählen kann

Russland haften unzählige Klischees an, ein bunter Strauß an Mythen und Vorurteilen, mit einem faszinierenden Hauch des Märchenhaften und Besonderen. Manche Klischees fand ich bestätigt, doch viele erwiesen sich, wenig überraschend, als unwahr. Russische Städte entsprachen dem Bild, was ich mir vor meiner Reise gemacht hatte. Zierliche bis protzige Innenstädte, prächtig verzierte orthodoxe Kirchen und gewaltige Regierungsgebäude, umgeben von weitläufigen Schlafstädten, also Stadtvierteln, durchzogen von riesigen Boulevards, gesäumt von zwölfstöckigen, urzeitlich anmutenden Plattenbauten aus den frühen Siebzigerjahren. Kemerowo war da keine Ausnahme, das Stadtbild ist daher definitiv Gewöhnungssache und wird nicht jedem zusagen. Mich hat dieser ganz eigene Charme dennoch angezogen, von Frühling bis Spätherbst radelte ich tagtäglich in die Universität durch dieses mir immer vertrauter werdende Gewirr aus Straßenbahnschienen, riesiger Plattenbauten und verwinkelter Hinterhöfe.

Mein Eindruck von den Russ*innen war ebenfalls sehr positiv. Mir gefiel die leicht schroffe und direkte Art, energisch, herzlich und zupackend. Wenn mich jemand nicht mochte, dann merkte ich das direkt. Falsche Höflichkeit erlebte ich selten bis nie, und was erst ungewohnt schien, erwies sich schnell als sehr angenehm. Die Gesichter waren ernster, ein Lächeln seltener, was aber keinesfalls auf mangelnde Höflichkeit oder Frohsinn zurückzuführen war, wie ich sehr schnell bemerkte, sondern schlichtweg daran lag, dass ein Lächeln in Russland weniger inflationär gebraucht wird, bewahrt als Geste, die Freunden und Familie vorbehalten ist. Am Anfang irritierte mich noch, wie sich Kassierer oder Schaffner wunderten, wenn ich sie zur Begrüßung angelächelt hatte. Später kam mir ein Sprichwort zu Ohren: Ulybka bez prichiny priznak durachiny, was man frei mit Ein grundloses Lächeln ist ein Zeichen für Schwachsinn übersetzen könnte.

Nur selten begegnete mir echte Unhöflichkeit, die aber gleich darauf wieder abgegolten wurde. Einmal war ich im Herbst zum Wandern rausgefahren, den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatte abends ein kleines Provinzstädtchen erreicht, einhundert Kilometer von Kemerowo entfernt. Ich wollte den letzten Bus nehmen, nur leider war der Pfad verschlammt und glitschig gewesen, einmal war ich gestürzt, meine Jacke war schmutzig geworden. Als ich den Bus bestieg, verweigerte die Schaffnerin mir die Mitfahrt, dies sei ein öffentliches Transportmittel, ich würde alles dreckig machen. Ich bot an, die schmutzige Jacke in den Rucksack zu tun, dann würde ich die Sitzpolster nicht in Mitleidenschaft ziehen, aber das wollte sie nicht, sagte nur, ich solle mich zum Teufel scheren. So fuhr der letzte Bus davon, in meiner Hilflosigkeit probierte ich, per Anhalter zu fahren, doch die Straße zurück in die Stadt war leer. Versehentlich hielt ich schließlich ein Polizeiauto an, man nahm mich mit, ich saß hinten im vergitterten Wagenteil für Verhaftete, man bot an, mir zu helfen. An einer Haltebucht stiegen wir aus, ein Polizist holte eine Winkerkelle heraus, als wolle er Verkehrskontrollen durchführen. So hielt er die Vorbeifahrenden an, welche nervös fragten, was sie falsch gemacht hätten, ob sie zu schnell gewesen seien, woraufhin man erwiderte, sie wären wunderbar gefahren, man habe nur fragen wollen, ob sie bereit seien, einen jungen Mann, der den letzten Bus verpasst hatte, mit nach Kemerowo zu nehmen.

Das Thema Corona wurde sehr nonchalant behandelt und im Nachhinein bin ich sehr froh darüber, das Coronajahr in Sibirien verbringen zu können. Denn vielen Leuten war die Pandemie relativ egal, Masken in Supermärkten oder Bussen waren eine Seltenheit, selbst als die Regierung Cafés und Restaurants für eine Weile schloss, blieben viele heimlich geöffnet, die Kundschaft rief im Café an, ein Kellner spähte durch heruntergelassene Jalousien nach lauernder Polizei, dann wurde man eingelassen. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, war ich verwundert über den Stellenwert, den die Pandemie im alltäglichen Leben und vor allem in Gesprächen mit Familie und Freunde einnahm. In Russland hatten wir selten bis nie über Corona gesprochen.

Die Lebensumstände sind deutlich rauer. Dies zeigte sich an vielen Stellen. Die Löhne sind relativ niedrig, die Wohnverhältnisse teils einfacher, das Klima und die Luftverschmutzung beschwerlich. Dies manifestiert sich auch im Leben der Studierenden. Das Phänomen WG, welches in Deutschland ja sehr weit verbreitet ist, existiert kaum. Die Studierenden aus der Stadt bleiben in vielen Fällen bei den Eltern wohnen, Studierende aus umliegenden Dörfern und Nachbarstädten wohnen in Mehrbettwohnheimzimmern. Urlaubssemester, zerdehnte Bachelor, die die Regelstudienzeit weit überschreiten, weite Reisen in den Semesterferien, all das ist deutlich seltener anzutreffen als in Deutschland. Viele Studierende arbeiten nebenher und müssen sich mit wirklich lausigen Tätigkeiten zufriedengeben. Im Winter beispielsweise werden immer zahllose Menschen gesucht, die in Hebebühnen unter die Dächer fahren, um gefährliche Eiszapfen abzusägen oder den Neuschnee von den Flachdächern schippen, da die Schneelast sonst zu groß würde. Ein Freund von mir tat dies auf einer Baustelle, schippte in vierzig Metern Höhe bei Eiseskälte Schnee vom Dach. Es war sehr rutschig, daher war er angegurtet, doch immer wieder glitt er aus, fiel über die Kante und hing in großer Höhe in der Luft, bis ihn ein Kollege wieder hinaufzog. Ein anderer Freund arbeitete in einem Einkaufszentrum, war als Döner verkleidet und machte Werbung für einen Imbiss. Eine Ausnahme bildeten die Philologiestudenten, die Nachhilfe in Deutsch und Englisch gaben und dabei relativ gut verdienten. Ein anderes Thema war unter den männlichen Studenten sehr präsent: Die Wehrpflicht, vor der man sich nach Ende des Studiums nur schwer drücken konnte. Es kursierten unheimliche Geschichten, was die Alten und Ranghöheren mit den Frischlingen anstellten, über abgelegene Kasernen irgendwo im fernen Osten, über konfiszierte Smartphones, die an Holzbretter in der Kantine genagelt wurden, wenn man sie verbotenerweise genutzt hatte. Die älteren Semester trafen sich auf dem Sportplatz vor unserem Wohnheim, trainierten, um körperlich fit zu werden und sich im Ernstfall behaupten und wehren zu können. Man ersann Strategien, um sich vor der Wehrpflicht zu drücken, trieb Ärzte auf, die einem chronische Herzkrankheiten oder Depressionen bescheinigten, versuchte Sonderregeln mit ominösen Anwälten durchzusetzen, auffallend viele promovierten, oft nur aus dem Grund, um studierend das 27. Lebensjahr zu erreichen und dann von der Wehrpflicht befreit zu sein. Manche gingen nach Montenegro oder China zum Arbeiten, saßen dort die Wehrpflicht aus, bis sie 27 wurden.

Rau auch die Natur, zu der die Stadtbewohner ein ganz anderes Verhältnis hatten als in Deutschland. Das verwundert auch nicht, denn direkt hinter der Stadtgrenze ist quasi die Welt zu Ende, es schließen sich endlose, unberührte Landstriche an. Mir fiel erst dort auf, wie ungewohnt der Anblick völlig ungenutzten Landes ist, ein Anblick, den man kaum kennt aus Deutschland. Kein forstwirtschaftlich genutzter Wald, keine Felder oder Äcker, keine Weideflächen, keine Windräder, keine Hochspannungsleitungen, kein dichtes Straßen- und Wegenetz, nur Urwald, Steppe, Taiga, wilde Flussufer und einsame Seen, völlig menschenleere Landstriche. Viele Stadtbewohner unterhielten neben dem Stadtwagen ein uraltes sowjetisches Geländefahrzeug, rumpelten zum Fischfang, Pilzesammeln und zur Jagd hinaus in die Taiga. Im Winter, wenn der mehrere hundert Meter breite Tom, der die Stadt durchzog, zugefroren war, bohrten die Menschen Löcher ins Eis, saßen dick eingekleidet auf dem Eis und zogen Fische durch die Eislöcher hinauf. Die meisten Stadtbewohner haben eine Datscha irgendwo in der Nähe der Stadt, ein kleines Holzhäuschen mit Gemüsegarten und einer Dampfsaune, wo man die Wochenenden fern der Stadt verbringen kann.

 

Tipps für Interessierte

Zum Stichpunkt Zeitpunkt empfehle ich, wenn man sich nur für ein Semester entscheidet, auf jeden Fall das Sommersemester, hier in Russland von Februar bis Juli, weil man dann einige sehr warme und schöne Monate verleben kann, mehr als im Wintersemester. Impressionen eines sibirischen Winters kann man anfangs trotzdem noch mitnehmen.

Die für das Visum notwendige Einladung und auch das Visum an sich sollten so früh wie möglich beantragt werden, da sich dieser Prozess sehr in die Länge ziehen kann. Für eine gute Beratung kann ich die Agentur visawelt in Berlin empfehlen.

Die Finanzierung ist mit der Erasmusförderung ohne Weiteres möglich, da die monatliche Rate, vor allem bei den aktuell eher niedrigen Rubelkursen, eine sehr hohe Kaufkraft besitzt. Ein paar Preisbeispiele: Taxifahrt von 7 Kilometern: 1,30€ / Bus- oder Straßenbahnticket: 0,30€ / Monatliche Wohnheimmiete: 5,50€ / Monatsmiete Einzimmerwohnung in Uninähe: 90-120€ / Drei-Gänge-Menü im Restaurant: 6-8 € / Bier in meiner Lieblingskneipe: 0,30€.

Zur sprachlichen Vorbereitung sind die Sprachkurse in der Slawistik empfehlenswert. Während in Russlands Großstädten gute Sprachkenntnisse vermutlich nicht essentiell sind, so halte ich sie in Kemerowo doch für sehr wichtig, da sich vieles nur mit Russisch klären lässt und die Sprache letztendlich auch der Schlüssel zum Land und seinen Menschen darstellt.

Außerdem ist eine gewisse Portion Optimismus und Gelassenheit vonnöten, angefangen von der Vorbereitung bis über zahlreiche organisatorische Belange vor Ort, die oft ungewöhnlich, spontan oder improvisiert gelöst werden. Irgendwie klappt es immer, aber es braucht seine Zeit.

Kemerowo ist wahrscheinlich nicht für jeden geeignet, die Stadt besticht nicht gerade mit Weltläufigkeit, die Klimabedingungen sind extrem und das Leben im Wohnheim erfordert starke Nerven. Doch man wird mit sehr offen, unheimlich spannenden und vielseitigen Menschen belohnt!

Ich würde es jederzeit wieder tun und wenn alles klappt, bin ich ab September zurück in Russland, um dort meinen Master zu machen, wenn auch nicht in Kemerowo sondern im etwas größeren Jekaterinburg.

Der Sommer ist vorüber und ein kurzer, aber sehr eindrucksvoller Herbst hat begonnen. Ich bin in dieser Zeit oft in der Natur, denn die Taigawälder und die weiten, leeren Landstriche sind wunderschön. Hier unternahmen wir eine Radtour in ein weit entferntes Dorf, achtzig Kilometer auf einer Schotterstraße ohne eine einzige Siedlung.
Wir fahren wieder in die Taiga, denn es ist Pilzsaison, der gesamte Wald ist übervoll. Als blutige Anfänger merken wir aber schnell, wie schwer es ist, essbare von giftigen Pilzen zu unterscheiden und dass man sich in den endlosen Wäldern sehr schnell verlaufen kann…
Eine letzte Wanderung im Oktober. Doch die Nächte sind bereits frostig, bald wird der lange Winter wieder Einzug halten.
Viel zu lange hatte ich versäumt, auch einmal die anderen Ausländer kennenzulernen, die an der Universität Kemerowo studieren. Wenn man die russischsprechenden Studenten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nicht mitzählt, kann man die Ausländer an einer Hand aufzählen. Eines Abends lud ich sie zum Essen in meine Wohnung ein, es ist eine sehr bunt gemischte Truppe. Von links nach rechts: Haqiq, ein 48-jähriger Afghane, ich, Kasosa aus Sambia, Claire und Wasia aus China. Es fehlen Adarsh aus Indien und Ousmane aus Guinea, der das Foto gemacht hat.
Am 10. Dezember schließlich der Abschied. Es hatte viel zu organisieren gegeben, doch nun ist die Wohnung gekündigt, der Papierkram erledigt, der Hausstand veräußert und die Zugtickets gebucht. Meine Heimreise war noch einmal sehr spannend, ich besuchte noch einmal meine Brieffreundin in Tjumen, denn das lag auf dem Weg, machte Stopp in Moskau und sah mir St. Petersburg an. Dort reiste ich übers Baltikum aus, die Grenze war menschenleer, zu Fuß ging ich überquerte ich eine Brücke über den Grenzfluss, dann war ich zurück in der EU, und nach langen Busfahrten wieder daheim in Deutschland.
Dezember, meine Zeit in Kemerowo neigt sich dem Ende zu. Mittlerweile ist es tiefster Winter. Ein letztes Mal möchte ich in die Taiga, wir unternehmen bei Minus dreißig Grad eine Wanderung durch den verschneiten, gefrorenen Wald.
Und schließlich fällt der erste Schnee…
Im November fahre ich mit Freunden in die Altaiausläufer, die Skisaison ist eröffnet. Die Pisten durch verschneite, neblige Nadelwälder sind wahnsinnig schön…

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