Pierre Grube

Studium in Greifswald
Lehramt Gymnasium: Russisch und evangelische Religion
Aktivität im Ausland
Hochschulaustausch, Baltische Förderale Immanuel-Kant-Universität Kaliningrad (Russland)
Zeitraum
Januar - Dezember 2020
Wieso ich ins Ausland gegangen bin?
„Zum Ende meines Studiums wurde uns, die Russisch auf Lehramt studieren, gesagt, dass ein Auslandsaufenthalt in Russland doch obligatorisch sei. Da der Bewerbungszeitraum für ein Auslandssemester in Kaliningrad verlängert wurde, bekam ich glücklicherweise noch einen Platz für das Sommersemester 2020. Kaliningrad war Thema meiner Russisch-SPÜ 2018, in der ich über die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland sprach. Die Schülerinnen und Schüler sollten abseits des Lehrwerkes sich mit den einzelnen Städten /Austragungsorten beschäftigen und Plakate gestalten. Bei der Vorbereitung der Materialien fand ich Kaliningrad als Stadt sehr interessant. Nicht nur wegen des Naturspektakels der "Tanzenden Bäume" in der Kurischen Nehrung, sondern auch wegen ihrer deutschen Vergangenheit (Königsberg), die noch sehr geehrt und gelebt wird im heutigen Kaliningrad. Seit 2005 ist der große Philosoph Immanuel Kant wieder Namenspatron der dortigen Universität."
Kaliningrad und Umgebung

Die Küstenorte des Kaliningrader Oblasts
Als die Quarantäne offiziell endete und wir uns in Kaliningrad wieder frei bewegen durften, staunte ich nicht schlecht, wie sich die Stadt in der Zwischenzeit verändert hatte. Es war Anfang Mai. Überall grünte und blühte es. Die grauen Fassaden der Gebäude verschwanden hinter Büschen und Baumkronen.
Verschmolzen die grauen Häuser im Winter noch mit dem wolkenverhangenen Himmel, stachen sie jetzt nur noch in ein lebhaftes Blau, das Vorfreude auf den Sommer weckte. Ich ging viel Spazieren, erlebte die Stadt gern von ihrer frühlingshaften Seite. Alles schien wieder normale Wege zu gehen, bis auf die Online-Vorlesungen, die die Quarantäne überstanden. Dank des grenzlosen High Speed-Volumen meines Smartphones war es aber kein Problem, die Vorlesungen an den Ufern des Oberen Teiches zu verfolgen.
Außerdem war es für mich langsam an der Zeit, auch andere Orte im Kaliningrader Oblast zu entdecken.
In diesem Blogeintrag schreibe ich über die vier interessantesten Küstenorte, die ich während meines Auslandsaufenthalt im Kaliningrader Oblast besucht habe.
Selenogradsk
Es ist mittlerweile Mitte November. Die Tourismus-Saison endete bereits Anfang September, verging nahezu zeitgleich mit dem Beginn des neuen Schuljahres und des Wintersemesters. Aufgrund eingeschränkter Reisemöglichkeiten rund um die Corona-Pandemie verbrachten die Menschen in Russland ihren Urlaub dieses Jahr vor allem in heimatlichen Gefilden. Aus diesem Grund war die Ostseeküste des Kaliningrader Oblasts stark frequentiert und überlaufen. Es gab kaum freie Plätze an den Sandstränden, kam man erst nach 13 Uhr mit den Zügen an den Küstenorten an. Hinzukam der überdurchschnittlich heiße Sommer, der das Bild eines verregneten Kaliningrads vollkommen verhöhnte. Die Temperaturen lagen in diesem Jahr mehr als sieben Grad über dem Durchschnitt.
Und nun ist die Saison beendet und der Winter steht vor der Tür. Ich nehme mir eine kurze Auszeit von den Vorträgen, die ich in den Online-Seminaren halte und will die Kaliningrader Ostsee von ihrer herbstlichen Seite kennenlernen. Das schlechte Wetter hat im Oblast wieder die Oberhand gewonnen. Es regnet fast jeden Tag. Eigentlich die beste Voraussetzung, die faszinierende Gemütlichkeit eines herbstlichen Spazierganges am rauen Meer auszukosten.
Die schmalen Laternen zittern vom Wind, als ich auf der Seebrücke wieder zurück in Richtung Selenogradsker Festland gehe. Parallel von mir tosen die Wellen und verschlucken weite Teile des Sandstrandes. Sie durchspülen den Untergrund, der sich unter der mondänen Promenade erstrecke, wo wir im Sommer Schatten suchten und Fotos schossen. Streng schaut mich das verlassene Strandhotel mit seinen leeren Fenster an, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Ein Lost Place schräg gegenüber der Seebrücke, womit der Oblast nichts anzufangen weiß und es verfallen lässt.
Im Herbst über die Strandpromenade zu flanieren hat seinen besonderen Charme. Ich erinnere mich sogleich an die verregneten und windverzerrten Sommer, die ich jedes Jahr im dänischen Esbjerg und Umgebung verbringe.
Als ersten Küstenort des Kaliningrader Oblast schaute ich mir Selenogradsk an. Er ist ungefähr eine halbe Zugfahrt von Kaliningrad entfernt und liegt am Fuß der Kurischen Nehrung, einem schmalen Landstrich, flankiert von Ostsee und Kurischem Haff, den sich Russland und Litauen teilen. Das Highlight sind auf russischer Seite die tanzenden Bäume, die durch ihre geschlängelte Form ein Naturwunder sind.
Selenogradsk wird auch die Katzenstadt genannt. Es wimmelt nicht nur so vor lebendigen Vierbeinern auf der Straße, die man mit Snacks aus eigens dafür aufgestellten Automaten füttern kann. Nein, auch an den Hauswänden in der gemütlichen Innenstadt begegnet man ihnen als Graffitis der Künstlerin Dar´ja Ljuljukova, sei es als Picasso oder Cyberpunk.
Der alte Cranzer Wasserturm ist heutzutage das Katzenmuseum „Murarium“ mit einer Aussichtsplattform. Quasi der Superlativ der städtischen Katzenliebe. Benannt wurde es in Anlehnung an den Roman „Lebens-Ansichten des Katers Murr“ des Königsberger Literaten E.T.A. Hoffmann.
Ansonsten ist Selenogradsk ideal für Menschen, die gern lange Spaziergänge unternehmen, da sich die Küste vor allem wegen der Kurischen Nehrung weit ausstreckt.
Svetlogorsk
Dieser Ort ist ebenfalls einfach mit den Zug zu erreichen. Anders als das helle Selenogradsk liegt Svetlogorsk jedoch zwischen hohen, schlanken Nadelbäumen versteckt und zudem recht hoch gelegen. Hinunter zur Ostseeküste braucht es eine kleine Weile, hinauf viel Anstrengung. Breite Treppenstufen zählen regelmäßig die beim Aufstieg verbrannten Kalorien.
Am Fuß dieser Treppe befindet sich eine mystisch anmutende Sonnenuhr. Sie ist aus Mosaiksteinchen zusammengesetzt und anstelle von Ziffern verraten die zwölf Tierkreiszeichen die Uhrzeit. Eine solche Sonnenuhr befindet sich auch am Wahrzeichen Svetlogorsk, dem Rauschener Wasserturm, der von Efeu umschlungen abseits der Küste steht. Der Ort selbst hat viele Geschäfte und ist als Ferienort angelegt. Es gibt keinen Marktplatz im herkömmlichen Sinn, sondern nur die ausladenden Terrassen der einladenden Cafés. Typische Seebäderarchitektur gesellt sich in grünende Straßen, die nicht gegensätzlicher zum grauen Straßennetz Kaliningrads sein könnten.
Die Ostseeküste in Svetlogorsk wirkt jedoch rauer als beispielsweise jene in Selenogradsk, was aber nicht bedeutet, dass im Sommer keine Touristen dort Baden gehen. Auch sie ist sehr beliebt und im Sommer spätestens zu Mittagszeit überfüllt.
Pionerskij
Zehn Minuten südlich von Svetlogorsk liegt der Ort Pionerskij. Was gibt es über ihn zu erzählen? Natürlich, wieder ein Badeort und eigentlich nichts weiter. Vielleicht ideal für Ungeduldige, die im Sommer schnell ans Meer wollen und nicht bis Svetlogorsk warten wollen. Der Sandstrand ist sehr sauber und na ja, empfehlenswert für einen ruhigen Tag am Meer. Oder auch um eine Online-Vorlesung zu besuchen und bei angenehmen Temperaturen nicht im Wohnheim sitzen müssen.
Schaut man richtig Nordosten, erstreckt sich dort am Horizont der neue Fischereihafen. Vielleicht nicht sonderlich aufregend, das gebe ich zu. Interessanter ist es, auf der Promenade in Richtung der Seebrücke zu flanieren. Nicht um zu ihr hinzugelangen, die kann man sich schöner in Selenogradsk anschauen, sondern was ich auf dem Weg dorthin sehe. Nämlich die Residenz des Präsidenten der Russischen Föderation, welche 2011 fertiggestellt wurde. Sie thront auf einer grünen Anhöhe und Eisenzäune schützen sie. Ich musste nachlesen, was das überhaupt für ein Gebäude ist, als ich es das erste Mal sah. Es erinnerte mich von seiner Architektur sehr an ein Privatgymnasium für Hochbegabte, wie wir es beispielsweise auch in Torgelow vorfinden.
Jantarnij
Jantarnij ist der abgelegenste aller Küstenorte und nur mit dem Bus erreichbar. Sein Name bedeutete so viel wie Bernsteinig. Bernstein gibt es im Kaliningrader Oblast in Hülle und Fülle zu kaufen, allerdings findet man ihn komischerweise selten am Strand. Er wird auch Prusskij Mjod, Preußischer Honig genannt. Wenn du kein Volleyball spielst und nicht zur Mannschaft des erfolgreichen Frauenvolleyball-Clubs Lokomotiv Kaliningrad gehörst, um dort die Pre-Saison Vorbereitung zu bestreiten, empfehle ich dir auf keinen Fall nach Jantarnij zu fahren. Die anderthalb Stunden im stickigen Bus lohnen sich einfach nicht, selbst wenn der Küstenort durch seine Abgeschiedenheit viel versprechend klingt.
Weihnachten in Kaliningrad
Mein erstes Wochenende in Kaliningrad verbrachte ich im Zentrum, genauer gesagt im Restaurant Tabasko, welches ich in meinem zweiten Blog-Eintrag bereits thematisiert habe. Als ich vor dem Klover-Center stand und auf meine Tutorin Marija wartete, schaute ich mir staunend die funkelnde Dekoration am Siegesplatz an, die noch vom Neujahrsfest war. Passanten ließen sich besonders gern vor dem bläulichen Lichtspiel der Neujahrstanne fotografieren oder schossen Fotos vom elektronischen, trikoloren „С Новым Годом“-Schriftzug, das die Fassade des Kaliningrader Rathauses zierte.
Vor allem die zahlreichen Kaliningrader Einkaufszentren sind in ausgelassener Weihnachtsstimmung. Christmas-Popsongs laufen in Dauerschleife, die Schaufenster der Geschäfte versuchen sich gegenseitig mit festlicher Dekoration zu übertrumpfen. Und auch außen zerreißen unzählige Lichterketten die Dunkelheit des Dezembers.
Es ist schon etwas ironisch, wie ich dies alles schon im Januar erlebt. Der Siegesplatz erstrahlt erneut in seiner weihnachtlichen Dekoration, wie ich ihn kennengelernt habe. Beißende Kälte weht zwischen blendenden Lichtern hindurch. Ist wirklich schon ein Jahr vergangen? Es fühlt sich gar nicht so, obwohl ich viel erlebt habe und die Welt durch den Corona-Virus auf den Kopf gestellt wurde.
Ja,Ich verbringe wirklich meine letzten Wochen in Kaliningrad. Und wenn ich im Januar zurück nach Deutschland fliege, leuchtet die Dekoration immer noch. Hoffentlich begrüßt sie wieder neue Auslandsstudierende, die sich ebenfalls die Erfahrung Kaliningrad zutrauen und sich in einer fremden Umgebung neu entfalten wollen.






Blogbeitrag Nr. 2

Es ist Sonntag, kurz nach 18 Uhr. In einer guten Stunde würde Baltika spielen. Ich hatte noch nichts gegessen. Leider war es schier unmöglich ohne Reservierung ein Platz in einen der Restaurants in den beiden großen Einkaufszentren am Siegesplatz zu bekommen. Ich hatte selbst keine Zeit, mir etwas zu kochen oder irgendein ein kleineres Lokal zu suchen. Man brauchte eine gute halbe Stunde zu Fuß zum WM-Stadion, hinzukommen eine Viertelstunde Wartezeit wegen der Einlasskontrolle und der Corona-bedingten Gesundheitschecks.
Wie es der Zufall so wollte, entdecke ich am Fuß des Sonnenboulevards, der Fanpromenade zum Stadion, die koschere Küche der neueingeweihten Liberalen Synagoge.
Sie ist ein faszinierendes Gebäude.
Je länger ich zu der gestreiften Synagoge hinüberschaute, umso mehr erkannte ich ein Gesicht unter dem gezagten Haaransatz der Mutterkuppel; zwei blaue Augen, einer runden Nase und einen langen geschlossenen Mund mit schwarzen Lippen. Auf ihrer Nasenspitze standen die zehn Gebote in althebräischer Sprache.
Das große, zentrale Fenster ähnelte einer Brosche, die man nur zu Festtagen trug. Dieser Synagogenkörper schloss mit zwei starren Anbauten, wie zwei steifgeblasene Arme, ab. Jetzt erst erkannte ich, woran mich die Synagoge erinnerte. Ich schaute auf einen überdimensionalen Nussknacker, dessen untere Körperhälfte im Boden steckte. Ein eigentümlicher, gar mystischer Anblick, aber äußerst schön.
Ich erwähnte bereits, dass die vergangene Fußballweltmeisterschaft Kaliningrad neue Impulse verlieh. Auf der einen Seite modernisierte sich die Stadt und auf der anderen Seite belebte es seine deutschen Wurzeln. Es gab keine Postkarte, die nicht auf Königsberg verwies.
Und so wurde 80 Jahre nach ihrer Zerstörung die Liberale Synagoge wiedererrichtet, wenn auch erst wenigen Monate nach der WM 2018.
Der Preis der neuen Freiheit
Am ersten Oktober wurden die Corona-Regelungen wieder etwas verschärft, erst einmal für einen Monat. Kinos bleiben am Wochenende geschlossen und in Theatern sowie Restaurants dürfen nur fünfzig Prozent der Plätze belegt werden.
Jetzt ist es schwieriger, spontan einen Platz im Restaurants zu bekommen. Seit im Juni nach der längeren Quarantäne wieder Gäste in die Lokale dürfen, bin ich fast jeden Tag da. Die Preise sind gar nicht mit denen in Deutschland zu vergleichen. Ein einfaches Abendessen mit Getränk kostet sechs bis acht Euro, mit Vor- und Nachspeise rund elf Euro. Und Qualitativ stehen die Restaurants in Kaliningrad den europäischen in Nichts nach. Es sollte auch nie vergessen werden, dass gerade Cafés oder Restaurants die besten Orte sind, sein Russisch zu verbessern. Man kommt eben schnell mit den Kellnern ins Gespräch. Nach der Quarantäne weiß ich diese Geselligkeit umso mehr zu schätzen.
Geduld und Optimismus
Mein Mitbewohner kam Anfang Februar. Wir verstanden uns gut, schauten gemeinsam Fußball oder anderen Sport im Fernsehen, saßen in der Küche und erzählten bei einem Wässerchen über unseren Uni-Alltag. Es war bereits sein drittes Auslandssemester, doch was in den nächsten Monaten folgte, hatte er auch noch nicht erlebt.
Probeweise schlossen für eine Woche zunächst der Einzelhandel und die Restaurants. Dieser Mini-Lockdown weitete sich Anfang April zu einem großen aus. Alles schloss bis auf Apotheke und Supermärkte. Wir durften nur in den nächstgelegenen Supermarkt gehen. Kein Spazierengehen war erlaubt. Neben dem Einkaufen durften wir nur zum Müll herausbringen auf die Straße oder eine kleine Runde mit dem Hund Gassigehen. Nur hatten wir keinen. Letzteres wurde in den Sozialen Netzwerken schließlich zum kleinen Meme.
Ich hörte von Kommilitoninnen und anderen Auslandsstudierenden, die während dieser Zeit nach Hause flogen. Ich blieb. Warum? Was ich über die Sozialen Medien und meine Freunde von der Corona-Situation in Deutschland mitbekam, hörte sich kein Stück besser an. Also blieb ich, auch mein Mitbewohner brach sein Auslandssemester nicht ab.
Es war fortan seltsam. Ich durfte keine Freunde treffen, aber musste mir mit einem fremden Menschen ein Schlafzimmer teilen. Ich ging jeden Tag Einkaufen, manchmal auch nur für eine Cola, nur um etwas herauszukommen. Alkohol war zu dieser Zeit im Wohnheim verboten, was letztendlich aber niemand kontrollierte.
Wann ich immer vom Supermarkt wiederkam, sah ich die leblosen Fenster in der unteren Etage unseres Wohnheimes. Dort wohnte niemand mehr. Ich sprach meinen Mitbewohner darauf an. Wir beschlossen am folgenden Montag zur Kommandantin zu gehen und sie zu bitten, aufgrund der aktuellen Corona-Situation eigene Apartments zu bekommen. Wir waren an diesem Tag sehr optimistisch, quatschten wieder ausgiebig wie vor dem Lockdown miteinander. Es gab Tage, in denen wir kaum miteinandersprachen. Worüber auch? Wir erlebten ja nichts Neues mehr und hockten nur noch aufeinander.
Und so gingen wir am Montag zuversichtlich zur Kommandantin.
Warum wollen Sie nicht mehr zusammenwohnen? Wir begründeten es mit der aktuellen Corona-Situation.
Okay, aber Sie müssen dann für diese zwei Monate Miete zahlen. Das ist kein Problem (die monatliche Miete kostet nur 25€).
Ja gut, aber ich bin für die Zimmervermietung nicht zuständig, sondern das Wohnheimbüro am Campus. Sie arbeiten allerdings zurzeit nicht.
Punkt. Aus. Ende. Damit war alles gesagt. Resigniert trabten wir zurück in unser Apartment.
Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass mein Mitbewohner und ich sehr gute Freunde geworden wären und jeden Tag weiterhin wie die engsten Kumpel zusammengesessen hätten, wäre die Quarantäne nicht gekommen bzw. hätten wir die eigene Bude bekommen. Es war halt diese fehlende Privatsphäre, kein eigenes Schlafzimmer zu haben, was uns wirklich störte; weshalb wir uns aneinander etwas störten.
So lebten wir still nebeneinanderher, bis mein Mitbewohner Ende Juni um vier Uhr morgens abreiste, mit dem Taxi zur Grenze fuhr und diese zu Fuß überquerte.
Ein Stückchen Normalität
Schon im Mai endete diese besondere Isolation. Einige meiner Kommilitoninnen bzw. Schülerinnen des Deutsch-Kurses kehrten zurück. Ich selbst kam wieder heraus und genoss die neue alte Freiheit, wenn auch noch vieles geschlossen war.
Vielleicht dachte ich zu regelkonform. Die Kaliningrader selbst scherten sich wenig um die Strenge Quarantäne. Kinder spielten auf den Spielplätzen und Anwohner joggten im Wäldchen unseres Viertels, der grünen Lunge zwischen den Hochhäusern. Angedrohte Geldstrafen, für viele Bürger ein Großteil ihres Monatseinkommens, schreckten sie nicht ab, beinahe ihr gewohntes Leben zu führen.
Nun muss ich eines erwähnen: In Kaliningrad gab es zu dieser Zeit nicht sonderlich viele Fälle, in denen Menschen an Corona erkrankten. Das lag vielleicht auch daran, dass dieses Gebiet sehr abgeschottet ist, wenn man es mit seinen Nachbarn vergleicht. Die Angst der Mensch war in diesem Frühling nicht, sich mit einem tödlichen Virus anzustecken, sondern dass Lebensmittel wegen der strengen Grenzschließung nicht mehr importiert werden können. Diese Sorge bestätigte sich zum Glück nicht und wurde auch nur die ersten Tage gehegt. Überhaupt verhielten sich die Kaliningrader in den Supermärkten sehr umsichtig und erledigten keine Hamsterkäufe. Wann immer ich im Supermarkt war, sah ich schmunzelnd zu den Regalen, die von oben bis unten mit Toilettenpapier und Küchenrollen gefüllt waren.
In guter Gesellschaft schmeckt es am besten
Erst nach der Quarantäne bin ich wirklich zum Restaurantgänger geworden. Vorher kaufte ich mir eine Kleinigkeit im Supermarkt, die dann zuhause aß. Jetzt habe ich meine eigenen vier Wänden satt und möchte hinaus in die Innenstadt und ihre Lokale. Kaliningrad steht anderen europäischen Städten gastronomisch in Nichts nach und bietet eine breitgefächerte Restaurantlandschaft.
Studierende gehen gerne ins Tabasko, einer modernen Pizzeria mitten im Zentrum. Gleich am ersten Wochenende meines Auslandssemesters hat mich mein Buddy Marija dorthin eingeladen. Dort gibt es meiner Meinung nach die beste Pizza der Stadt. Besonders zu empfehlen ist die vegetarische Pizza Toskana mit dünngeschnittenen Birnen und Honig. Ich war selbst überrascht, dass Früchte auf einer Pizza schmecken können. Nebenbei war die Aussicht auf die winterlich-weihnachtliche Lichtdekoration des Siegesplatzes wirklich sehr schön.
Ebenfalls beliebt bei den Studierenden ist Patisson Markt mit seiner modernen leichten Küche. Das Lokal selbst habe ich noch nicht besucht, sondern dort nur bestellt, als die Restaurants zwar noch geschlossen waren, aber immerhin Lieferdienste anboten.
Zur oberen Preiskategorie gehören in Russland georgische Restaurants. Sie ähneln mit ihren deftigen Fleisch-Gerichten und bekömmlichen Weinen den griechischen Restaurants in Deutschland, die es hier leider nicht gibt. Die Innenausstattung ist in jedem der drei georgischen Restaurants in Kaliningrad sehr mondän, wobei mir beim Manavi die ausgedehnte Sommerterrasse sehr gut gefällt. Mein Geburtstag werde ich aber wohl im Satschmeli (georgisch für Essen) feiern, weil mir besonders der Mix aus traditioneller Küche und Innovation gefällt.
Nicht nur deutsche Automarken und der deutsche Fußball erfreuen sich in Russland großer Beliebtheit, sondern auch das Essen. Gut, vielleicht sollte ich eher sagen bayrische Automarken, Fußball und bayrisches Essen kommen gut an. Kaiserwurst besitzt das typische Wirtshausflair und mehr noch einen interessante Musikmix aus deutschem Schlager und Trinkliedern. Das Zötler ist nicht nur eine zünftige Gaststätte, sondern auch der gastromische Ableger der gleichnamigen allgäuischen Brauerei. In beiden Lokalen wird die bayrische Küche nicht nur authentisch gekocht, sondern auch in klassischer Tracht serviert. Eine andere Gaststätte ist das Tantchen Fischer (Tjotka Fischer), welche sich selbst als Deutsches Restaurant mit russischer Seele bezeichnet. Zwar sind hier die Portionen kleiner als in den bayrischen Lokalen, aber qualitativ hervorragend. Besonders zu empfehlen ist der Gulasch mit Reibekuchen und sauerer Sahne. Die Schirmherrin Tantchen Fischer, deren Zeichnung die Wände des Lokals schmücken, erinnert mich an eine Mischung aus einem frechen Mannequin der Zwanziger und Gala Dali. Es fehlen nur noch die Kurt Tucholsky Zitate, um die Atmosphäre von vor hundert Jahren perfekt zu machen.
Neben diesen Restaurants kann ich aber auch noch eine Bar besonders empfehlen: Das Dreadnought. In dieser Kellerbar, die nach einem britischen Schiff benannt ist, gibt es für jeden Geschmack etwas. Sei es nun Public Viewing, exklusiven Talks mit Spielern von Baltika oder regelmäßigen Stand-up-Comedys und Live-Konzerte. Die Getränkekarte dieses Pubs hebt sich sehr von anderen Lokalen in Kaliningrad ab, da sie populäre und vor allem recht unbekannte Biere aus allen Ecken Europas anbietet. Natürlich gilt das gleiche für andere alkoholische Getränke und Softdrinks. Diese kann man nicht nur an seinem Tisch genießen, während man auf einem der unzähligen Monitore sportliche Live-Events verfolgt, sondern auch klassisch an der Bar, wo man recht schnell mit anderen Menschen ins Gespräch kommt.




Die Unmöglichkeit der Normalität

Ich sitze in meinem Wohnheim, das Apartment ganz für mich allein, weil aktuell keine anderen ausländischen Studierenden in den Kaliningrader Oblast einreisen können. Es ist der erste September und ich lausche dem bunten Musikprogramm der naheliegenden Schule. Es ist nämlich der erste Tag des neuen Schuljahres und des neuen Wintersemesters.
Ich möchte mit meinen Kommilitoninnen auf eine erfolgreiche Zeit anstoßen, auf den Zweitversuch meines Auslandssemesters. Nur ist das leider nicht möglich. Die meisten von ihnen sind während der Quarantäne im Frühling nach Hause geflogen und hocken dort in den Zoom-Vorlesungen. Doch selbst wenn wir uns im realen Leben wiedersehen könnten, wäre es heute nicht möglich, mit etwas Sekt oder Bier anzustoßen.Es gibt Tage im Kaliningrader Oblast, in denen kein Alkohol verkauft werden darf. Selbst im gewöhnlichen Zeitraum von 11 bis 21 Uhr nicht. Fast immer hat es etwas mit Kindern zu tun. Am ersten Schultag des Jahres, am internationalen Kindertag und dem Tag der Jugend Ende Juni war es den Geschäften untersagt, Alkohol zu verkaufen. Und am 11. September, wer weiß schon warum.
Es ist Herbst. Der unerwartet heiße Sommer endete in starken Regengüssen, typisch für Kaliningrad. Zurück zur Normalität also, jedoch gilt das noch nicht für die Vorlesungen.
Grau in Grau
Mitte Januar fuhr ich mit dem Bus von Berlin aus über Warschau nach Kaliningrad. Siebzehn Stunden hatte ich Zeit, mir mein bevorstehendes Auslandssemester und die Stadt selbst auszumalen. Ich erwartete ein reguläres Semester, eine neue Herausforderung, sich in einer fremden Umgebung und Sprache zurechtzufinden.
Es sollte durch Corona ganz anders verlaufen.
Das Buddy-Programm der BFU Kaliningrad stellte mir Marija zur Seite, die mich vom Bahnhof abholte und zusammen fuhren wir zu meinem Wohnheim. Es fühlte sich gut an, schon von Anfang an nicht allein in dieser unbekannten Umgebung zu sein. Marija sprach zu gut Deutsch, dass ich mir nicht die Mühe machte, mich mit ihr auf Russisch zu unterhalten.
Als einer der russischen Austragungsort der letzten Fußballweltmeisterschaft wandelte und modernisierte sich das Stadtbild Kaliningrads. Im Allgemeinen verschönerten neue Restaurants, Cafés und Promenaden die Stadt. Den Mittelpunkt des Zentrums bildet aber immer noch das leblose Haus der Sowjets. Ein symbolisches Konstrukt vergangener, polarisierender Zeiten, beabsichtigt größer als jedes andere Gebäude um sich herum. Kinder
bauen solche nutzlosen Häuser aus Steckbausteinen. Hier stand früher das Schloss, vor Corona durch Virtual Reality Brillen wenigstens für einen Moment wiederbelebt. Selbst der Gouverneur des Kaliningrader Oblast Anton Alichanov fordert immer lauter den Abriss des Gebäudes, das aufgrund seiner Nutzlosigkeit fasziniert.
Unser Taxi fuhr auf breiten Straßen zwischen einheitlichen Hochhäuser mit verlebten Fassaden vorbei. Es gab viele Russen, die sich für eine solche Wohnung in ihnen lebenslang verschuldeten. Alles in Allem verwinkeltes Grau. Selbst der glühende Sonnenuntergang schaffte es nicht, die trüben Häuserfassaden zu beleben. Sie erstickten emotionslos das Feuer des vergehenden Tages und biederten sich der kühlen Nacht an.
Wie hielt es eine halbe Million Menschen nur in dieser trostlosen Stadt aus? Mein erster Eindruck war eine herbe Enttäuschung.
Anders als gewöhnlich
Doch was erwartete mich im Wohnheim? Fliederfarbene Wände, neues Mobiliar aus hellem Holz, makellose Laminatböden, im Badezimmer blau-gelb-weiße Kacheln in den Farben der Universität. Ich besaß eine eigene vollausgestattete Küche und einen Balkon. Die Miete kostete mich umgerechnet nur 25€ im Monat. Für diese vor allem saubere Unterkunft nahm ich gerne eine Stunde Weg zu meiner Fakultät in Kauf. Es gibt nämlich auch ein Wohnheim direkt gegenüber der philosophischen Fakultät. Eine ganze andere Welt verglichen mit meiner Bleibe und das gewöhnliche russische Studentenleben on Point. Einfache Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsküche und -badezimmer auf einer Etage sowie eine äußerst neugierige Kommandantin, die Liste führte, wer wann aus- und einging. Mein Apartment war dennoch zu klein für zwei Schlafzimmer. Marija wunderte sich zwar, warum noch keiner da war, versicherte mir aber, dass ich mir mit noch jemanden das Schlafzimmer teilen würde. Der Luxus eines eigenen Schlafzimmers und der dazugehörigen Privatsphäre war auch mir nicht vergönnt, egal wie schön das Apartment gegenüber dem normalen russischen Studentenleben war. Und den Wert einer Privatsphäre schätzte ich zu Zeiten der Quarantäne umso mehr.
Die Chance, mich selbst auszuprobieren
Dinge, die für ein Semester in Russland obligatorisch sind: Ein negativer HIV-Test, ein Röntgenbescheid zwecks Tuberkulose, ein vollständiger Impfpass. Ich erledigte alle
medizinischen Dokumente samt Visum in den ersten beiden Januarwochen. Am zweiten Tag liefen Marija und ich von einem Büro zum anderen, um mich offiziell anzumelden und meine medizinischen Gutachten durchchecken zu lassen. Ich bekam meinen Stundenplan, der sich aus verschiedensten Gründen in den nächsten Wochen noch änderte.
Das Kaliningrader International Office bemühte sich stets, passende Aktivitäten für mich zu finden. Hast du Interesse auf der Bühne russische Gedichten zu rezitieren? Nein, auf keinen Fall. Das ist so gar nicht mein Ding. Hättest du nicht Lust, ein Video zu drehen, wo du über dein Leben an der Universität erzählst? Nope, auch nicht. Könntest du dir vorstellen, anderen Studierenden im Language Club Deutsch beizubringen? Ja, das klingt schon interessant. Auch wenn ich das vorher noch nie gemacht habe.
Viel Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft
Die Studierenden sind sehr aufgeschlossen gegenüber ausländischen Kommilitonen. Ich erinnere mich gerne an meine erste Vorlesung an der BFU zurück - "Russisch als Fremdsprache". Ich kam etwas zu spät, weil ich den Raum nicht fand. Auf dem Flur traf ich zufällig meine Dozentin, die mit mir ins Klassenzimmer ging, wo bereits fünf Kommilitoninnen auf "uns" warteten. Ich wurde kurz vorgestellt und danach verfolgte ich anderthalb Stunden mehr oder weniger erfolgreich der Vorlesung. Ein bisschen überfordert von der russischen Unterrichtssprache lehnte ich mich in der Pause zurück und wollte mich vor dem nächsten Seminar etwas ausruhen. Doch dann bemerkte ich wie mich jede meiner Kommilitoninnen interessiert anschaute und im nächsten Augenblick fingen sie an, mich neugierig mit Fragen zu löchern. Leider kamen die Dozentinnen stets zu spät, weshalb sich diese Pause sehr in die Länge zog und jede meiner Kommilitoninnen die Möglichkeit bekam, mich zu allen Themen und persönlichen Dingen zu befragen.
Ich glaube, dass das in Deutschland nicht so üblich ist, da man im Vorlesungssaal nicht ganz interessiert an seinen Kommilitonen ist. Auch habe ich in Russland sehr viel Hilfsbereitschaft erfahren. Da ich keinen Online-Account für das Vorlesungsverzeichnis besaß (eigenes Versäumnis vor der Quarantäne, es war davor nutzlos für mich), half mir vor allem die Kurssprecherin, dass ich während des distanzierten Lernens die Materialien und Aufgaben bekam. Es schien für sie alle selbstverständlich, sich die Mühe zu machen, um jemandem Fremden zu helfen. Auch waren meine Kommilitoninnen sehr geduldig mir manche Sache noch einmal zu erklären oder sich zu wiederholen. Sie und vor allem die menschliche Interaktion im Allgemeinen brachten das erste Mal Farbe in den grauen,
winterlichen Stadtalltag Kaliningrads. Nicht die Leuchtreklamen der Einkaufszentren mit ihren überteuerten Geschäften. Nicht die Graffities auf dem Universitätscampus zum 75. Jubiläum des sowjetischen Triumphs im Großen vaterländischen Krieges. Und vor allem auch nicht das abwechselnden Rot- Grün der Ampeln, die vergeblich den Abendverkehr und seine Staus Kaliningrads ent- bzw. beschleunigten.




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