Marcel Knorn
Studium in Greifswald
Language Diversity M.A.
Aktivität im Ausland
Auslandsstudium Erasmus+, Universität Tallinn (Estland)
Zeitraum
Januar - Juni 2020
Wieso ich ins Ausland gegangen bin?
"Schon länger habe ich einen Narren an Fremdsprachen und Kulturen Nordosteuropas gefressen. Mein Erasmus in Tallinn führt mich nach Estland zurück – ein Land, in dem ich bereits früher gewohnt und das ich zu lieben gelernt habe. Ich freue mich auf ein spannendes Semester im Norden, in dem ich auf meinen vier starken Sprachen – Estnisch, Finnisch, Russisch und Englisch – studieren kann"
Erasmus in Tallinn – 6 Dinge, die Du wissen musst
Dieses Semester ist wie kein anderes. Aber auch, wenn es eine besondere Erfahrung war, so wird die Pandemie doch irgendwann vorbeigehen. Meine Post-Lockdown-Rückkehr neigt sich dem Ende zu und es wird Zeit, etwas grundlegender über das Studieren und Leben in Tallinn zu schreiben: Für dich, der Du vielleicht mit dem Gedanken spielst. Und für eine Zeit nach Corona. Hier sind sechs Hinweise für Dich:
1. Studieren
Trotz gerade einmal 1,34 Millionen Einwohnern gibt es in Estland viele Unis. Ich habe an der Universität Tallinn studiert, die mit Greifswald Partnerschaften im Bereich Nordische Sprachen und Jura führt. Doch Greifswald hat noch weitere Erasmuspartner in Estland: die Musik- und Theaterakademie (Musikwissenschaft), die Landuniversität Tartu (Landschaftsökologie) und die Universität Tartu (Germanistik, Anglistik, Nordische Sprachen, Geschichte, Wirtschaft, Theologie). Die Lehre an allen Unis ist Spitzenklasse – die Uni Tartu, die TalTech und die Uni Tallinn gehören sogar den Top 5% der weltweiten Universitäten an (QS World Ranking). Dein Fachbereich hat keine Partnerschaft mit Estland? Frag trotzdem nach, es findet sich ein Weg!
Das Studium in Estland ist, wie ich bereits geschrieben habe, arbeitsintensiv. Es gibt möglicherweise Arbeitsformen, mit denen Du noch nicht vertraut bist. Bewertungen finden auch im Semester statt, zum Beispiel in Form von Moodle-Tests, Gruppenpräsentationen, Buchbesprechungen, Open-Book-Prüfungen oder Essays. Doch lass Dich nicht abschrecken: Es lohnt sich! Bildung ist in Estland ein hohes Gut; Lernen kann und darf auch Spaß machen. In meinem Kurs „Sprache und Gesellschaft“ zum Beispiel mussten wir in Gruppenarbeit eine völlig neue Sprache kreieren. Solltest Du dir nicht sicher sein, ob Du die Belastung schaffst, bleib lieber erstmal bei den vorgeschriebenen 15 ECTS. Diese sind auf jeden Fall machbar und lassen genug Raum für Freizeit.
2. Preise
Ich muss Dir gleichen einen Zahn ziehen: Das Märchen vom „billigen Osteuropa“ stimmt nicht – zumindest in Estland. Trotz der niedrigeren Löhne ist das Preisniveau vergleichbar mit Deutschland. Viele Waren, die von weit her importiert werden müssen, sind sogar deutlich preisintensiver, zum Beispiel Drogerieartikel. Auch das Feierabendbier ist wegen der höheren Besteuerung teurer. Einige andere Waren und Dienstleistungen können aber auch günstiger sein. Friseurpreise, Clubbesuche und Kinotickets sind wie in Deutschland; Taxi fahren, auswärts essen und Schlüsseldienste rufen (Fragt lieber nicht…) günstiger. In Zügen und Museen gibt es Studentenpreise – holt euch also eine ISIC! Insgesamt solltest Du wohl mindestens den gleichen Monatsbedarf wie in Greifswald einplanen – plus einen Puffer fürs Reisen.
3. Wohnen
Sowjetischer Plattenbau, gemütliches Holzhaus mit Sauna, mittelalterliches Steinhaus in der Altstadt, ultrahippe moderne Wohnung im Hipsterviertel: überall kann man als Student eine Wohnung finden. Ein Platz im Wohnheim kostet etwa 180 Euro, allerdings gibt es dort nur Doppelzimmer. Solltest Du etwas mehr Privatsphäre bevorzugen, findest Du über das Internet schnell eine Bleibe – dafür gibt es zahlreiche Internetseiten und Facebookgruppen. Zimmer in privaten Wohnungen liegen meist im Bereich von 200 bis 450 Euro. Mein Tipp: Keine Panikhandlungen! Solltest Du nicht rechtzeitig eine Unterkunft gefunden haben, nimm erstmal ein Hostel! Aus Torschusspanik die erstbeste Wohnung zu nehmen, kann teuer ausgehen. Notfalls findest Du in der Orientierungswoche neue Freunde, mit denen Du Dich zusammentun kannst!
4. Freizeit
Leider hatte ich gar nicht so viel Zeit, um alles zu tun, was ich gerne getan hätte – unabhängig von Corona. Als Hauptstadt und Kulturschmelzpunkt bietet Tallinn alles, was das Herz begehrt: Museen, Clubs, Fitnessstudios, Kunstausstellungen, Strandbäder. Konzerte finden in allen gängigen Musikrichtungen statt. In den Kinos werden ohnehin fast alle Filme im Original gezeigt, estnische Filme sogar mit englischen Untertiteln. Den Abend kann man entweder in einer Touristenfalle in der Altstadt oder in der hipstergetränkten Kreativstadt Telliskivi verbringen.
Wer gerne reist, kommt in Estland schnell zum Zug. Innerhalb des Landes kann man für wenig Geld mit Bus, Bahn oder Mietauto herumkommen. Es erwarten Dich pulsierende Städte wie der Kurort Pärnu, die geistige Hauptstadt Tartu oder das russisch geprägte Narva. Wie wäre es sonst mit unberührter Natur auf einer der tausend Inseln, in tiefen Wäldern oder auf malerischen Sumpfwanderwegen? Mit viel Glück (oder Pech) triffst Du dort vielleicht sogar auf einen Elch, Bären oder Wolf.
Auch ins Ausland ist der Weg nicht weit und innerhalb kürzester Zeit erwarten Dich gleich mehrere Perlen: Nach Sankt-Petersburg kommt man inzwischen visafrei, Fähren bringen Dich über die Ostsee nach Helsinki oder Stockholm, Busfahrten nach Riga oder Vilnius gibt es für wenig Geld. Unter deinen neuen Erasmusfreundschaften findet sich sicher schnell eine Reisebegleitung.
5. Die Menschen vor Ort
Das estnische Volk gilt im europäischen Vergleich als etwas kühl. Das braucht einen nicht zu wundern – schließlich sind sie Nordeuropäer. Es ist aber auf keinen Fall unmöglich, echte „Locals“ kennenzulernen. Auf Facebook und im Internet gibt es dazu viele Möglichkeiten: Stammtische, Sportclubs, Tanz- und Singvereine. Aus Erfahrung kann ich sagen: Wenn man sich durch die harte Schale an den weichen Kern gekämpft hat, verliert man estnische Freunde nicht so schnell wieder.
Zum Thema Sprache: Selbstverständlich bin ich kein Estlandneuling und deswegen nicht wie die anderen Erasmusstudierenden in Tallinn, schließlich habe ich Tallinn explizit gewählt, um auf Estnisch studieren zu können. Doch keine Bange, niemand setzt perfektes Estnisch voraus! Wer Interesse an dieser wunderschönen Sprache hat, kann sich schon an der Greifswalder Fennistik vorbereiten oder hier vor Ort einen Kurs belegen. Ein knappes Drittel der Bevölkerung spricht Russisch – für Erasmusstudierende gibt es deswegen auch Russischkurse. Doch auch mit Englisch kommt man beinahe überall weiter.
6. Das besondere Etwas
Mein Lieblingshinweis: Lass Dich auf das Abenteuer ein! Estland ist eine Perle, die darauf wartet, entdeckt zu werden. Nur wenige haben ein Bild vom kleinen Land im Nordosten. Es ist egal, was Dich anspricht: digitale Trends, unberührte Natur, die mittelalterliche Altstadt – Estland hält alles für Dich bereit. Gerade, wenn Du Dich vorher noch nie in diese Ecke Europas verirrt hast: Entdecke das Besondere!
Zurückkehren in seltsamen Zeiten
„Da bin ich also wieder.“
Diese Wörter hätte ich gern eher geschrieben. Als ich Tallinn Anfang März verließ, war ich nicht auf drei Monate Home-Erasmus eingestellt. Bei meinem Rückflug dachte ich: „Drei Wochen, was könnte da schon passieren?“ Dann überschlugen sich die Ereignisse…
Gegen Ende Mai kam die erlösende Nachricht: Flüge nach Tallinn sind wieder möglich! Der Landweg durch Polen war noch gesperrt, Schiffe über Finnland unbezahlbar. Und so ergriff ich meine Chance und flog. Der Flughafen Tegel war gespenstisch leer. Gerade einmal 20 Menschen traten den ersten Direktflug Berlin-Tallinn nach der ersten großen Pandemiewelle an. Mit Maske. Mit Desinfektionsmittel. Ohne Tomatensaft. In Estland angekommen erwartete mich gelebte Entspannung. Die hiesigen Infektionszahlen sind niedrig. Es gibt keine Maskenpflicht in Bus und Bahn, Bars und Restaurants sind geöffnet, überall treffe ich auf den Duft von Desinfektionsmittel.
Warum ich zurück bin? Nun ja, zum einen hatte ich im März nicht erwartet, meinen Erasmus zu beenden. Mein Mietvertrag läuft noch bis Ende Juni weiter und mein voller Kleiderschrank wartet darauf, von mir zurückgeführt zu werden. Zum anderen muss ich auch emotional mit meinem Corona-Erasmus abschließen. Jahrelang auf eine Gelegenheit zu warten und sie dann für den Großteil unterbrechen zu müssen, fällt nicht leicht.
Meine Prüfungen habe ich noch aus Deutschland heraus im Internet ablegen können. Das estnische Semester geht bis Mitte Mai, danach folgen die Prüfungen und im langen Sommer werden Praktika absolviert oder Nebenjobs aufgenommen. Meine Online-Uni hat derweil funktioniert wie geschmiert. Innerhalb kürzester Zeit hatten alle Dozenten auf Fernlehre umgestellt. Zoom, Jitsi, Moodle – die meisten waren mit den technischen Lösungen vertraut; schließlich ist Estland ein digitales Wunderland. Doch wer denkt, ein digitales Semester sei Urlaub, irrt sich gewaltig. Wie ich bereits in meinem letzten Post erwähnt habe, steigt die Arbeitsbelastung durch die Fernlehre enorm. Meeting nach Meeting, anschließende Gruppenarbeiten und digitale Aufgaben warten auf Erfüllung.
Ohnehin ist die Belastung an estnischen Unis, das muss man so einfach sagen, deutlich höher als in Deutschland. Wo mich sonst eine Vorlesung erwartete, die durch die Lektüre des Begleitmaterials, eventuell einen Vortrag und schließlich die Prüfung vollendet wurde, nimmt man anderswo die angedachten Workload-Zahlen ernst. In meinem Kurs zur estnischen Sprachgeschichte und -variation zum Beispiel erwarteten mich jede Woche nach der Vorlesung ein Batzen Literatur sowie ein Wochentest auf Moodle. Mindestens 50% aller Tests müssen bestanden werden, um überhaupt zu den Prüfungen zugelassen zu werden. Diese kamen dann in Dreierblöcken. Sprachvarietäten: Moodle-Prüfung. Dialektologie: 5 Seiten Essay. Sprachgeschichte: Moodle-Prüfung. Im Finnischkurs erwarteten uns schon auf Level B1 Vorträge, eine Buchbesprechung in Originalsprache und ein zu führendes Online-Tagebuch. Im Russischkurs schrieben wir mehrere Essays, die wir gemeinsam analysierten. Am Ende stellten wir den Anderen russischsprachige Forschung aus unserem Fachbereich vor. Meine Erfahrung deckt sich mit der anderer Erasmus-Studierender aus Deutschland. Hiermit möchte ich niemanden abschrecken. In diesem Semester habe ich sehr viel gelernt. Im Nachhinein nehme ich dafür die Arbeit in Kauf. Steht man vor einem Erasmus, sollte man sich lediglich nicht mit den ECTS übernehmen. Doch wie estnische Studierende es schaffen, nebenbei noch zu arbeiten, bleibt mir ein Rätsel.
Erasmus für zu Hause
Gerade einmal eine Nacht war seit unserer Tagesreise nach Finnland vergangen, als uns der Schock traf: Unsere gesamte Reisegruppe sei von der Universität zur zweiwöchigen Heimisolation angeraten worden. Im finnischen Parlament, das wir einen Tag vorher besuchten, habe man vier Coronavirus-Verdachtsfälle ausfindig gemacht. Obwohl eine Gefahr für unsere Gruppe konkret gar nicht bestanden hatte, ging die Nachricht unseres Besuches am Vortag in der Universitätsverwaltung ähnlich einem Stille-Post-Szenario von Instanz zu Instanz und plötzlich erkannte man eine konkrete Gefahr. „Gut, sei es drum“, dachte ich und bereitete mich auf die Quarantänewochen vor. Im Hinterkopf plante ich, bald in die Kurse zurückkehren zu können. Doch die Ereignisse dieser Woche überschlugen sich bald stündlich. Am Montag war von Corona-Angst nichts zu spüren, von Italien einmal abgesehen. Am Freitag würde das Leben in weiten Teilen des Kontinentes stillstehen, Deutschland und Estland würden die Schul- und Universitätslehre aussetzen und in jedem Land stellte man nach und nach mehr Infektionen fest.
Schnell stellte sich mir die Frage: gehen oder bleiben? Innerhalb weniger Minuten änderte sich meine Meinung, als ich wieder und wieder auf den „Aktualisieren“-Knopf der Nachrichtenseite drückte. Am Nachmittag schließlich kaufte ich mir ein Flugticket Tallinn-Stockholm-Berlin für den nächsten Morgen. Als ich zum Flughafen fuhr, kam mir meine Entscheidung wie eine verfrühte vor. Als wir jedoch in beiden Flugzeugen jeweils weniger als 15 Passagiere hatten, spätestens jedoch als nur etwa drei Tage später in Estland und Deutschland der Notzustand ausgerufen wurde, wusste ich, dass ich richtig gehandelt hatte. So schön wie ein Verbleib in Estland gewesen wäre – es wäre eine Zeit geworden, in der ich alleine meiner Wohnung überlassen worden wäre. Ohne Möglichkeit auf Museen, Kinos oder das Fitnessstudio. Für die Rückkehr nach Deutschland sprach demnach, dass ich mich in Greifswald in die Paar-Isolation begeben konnte und somit nicht alleine wäre. Dennoch rechnete ich, in Deutschland angekommen, mit einer Rückkehr Ende März… dann Mitte April… Ende April… Nun ja, soeben habe ich ein Ticket für einen abgesagten Flug auf Mitte Mai verschoben. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das Frühlingssemester wird bis dahin zu Ende sein, doch ich hoffe immer noch auf eine kurze Rückkehr – und sei es wenigstens, um meine verbliebenen Sachen zu holen, schließlich war ich lediglich mit einem kleinen Handgepäckskoffer aufgebrochen. Die meisten meiner Erasmusfreunde haben mittlerweile ihr Semester ebenfalls in ihre Heimatstädte verlegt oder aber ihr Semester komplett abgebrochen.
Doch nun zur guten Seite. Wer je etwas von Estland gehört hat, weiß: Estland ist ein digitaler Pionier. Dementsprechend fiel den meisten Lehrkräften ein Umstieg auf digitale Formate weniger schwer als zum Beispiel in Deutschland. Jede meiner Dozentinnen hatte es innerhalb von drei Tagen geschafft, ein digitales Lernkonzept für die nächsten Wochen zu gestalten. Vorlesungen werden aufgezeichnet, wir finden uns in virtuellen Lehrräumen auf Zoom oder Google Hangouts zusammen. Anfängliche Schwierigkeiten wurden schnell behoben. Tests finden über Moodle statt, Vorträge können online gehalten werden. Als Hausaufgabe darf im Sprachkurs auch mal ein Vlog-Beitrag gefilmt werden. Außer den Gruppenarbeiten in Sprachkursen, die im Klassenzimmer deutlich einfacher gelingen, spürt man kaum, dass im digitalen Unterricht etwas verloren ginge. Wohl eher im Gegenteil: die digitale Welt, so scheint es auch vielen meiner Kommilitonen, führt eher zu tieferem Lernen, jedoch auch zur Überanstrengung. Nicht wenige Dozenten ersetzen Präsenzveranstaltung mit größeren selbstständigen Aufgaben, zwischen deren Erfüllung mehrere Videokonferenzen gelegt werden müssen. Der digitale Weg, so scheint es uns, bietet nicht nur Möglichkeiten, sondern könnte auch zur Überbelastung führen. Unsere Workload ist seit März jedenfalls merklich gestiegen. Meine estnischen Kommilitonen, deren Nebenjobs ebenfalls Homeoffice ermöglichen, kommen fast gar nicht mehr hinterher. Obwohl die Notlage in Estland, falls sie nicht verlängert wird, am 1. Mai ausläuft, ist mittlerweile klar, dass es in diesem Semester keine Präsenzveranstaltungen mehr geben wird. Bis zum Ende der Vorlesungszeit am 15. Mai bleiben alle Kurse im Internet. Bis dahin heißt es: Augen zu, Zähne zusammenbeißen und durch. Vielleicht werde ich kurz darauf auch meine Sachen wiederbekommen. Vielleicht auch nicht. Bei Erasmus im Homeoffice, weiß man noch nicht, was man bekommt.
Von Sprachbrücken und Wodka-Vorteilspacks
Der Scanner trifft auf das Ticket, die Schranke springt auf – und schon geht es durch die hunderte Meter lange Gangway an Bord der Fähre. Tallinn und Helsinki sind nur einen fährverbundenen Katzensprung voneinander entfernt. Mehrere Male am Tag legen die grünen Schiffe der Marke Tallink von Estland nach Finnland ab. Tallink ist nur einer der drei großen Fähranbieter auf der Route von knapp 85 km. Zudem bieten mehrere kleine Schnellbootanbieter, zwei Fluggesellschaften sowie eine eigene Helikopterlinie die Fahrt über den Finnischen Meerbusen an. Nicht nur touristisch, sondern auch wirtschaftlich sind beide Städte längst voneinander abhängig. Viele Estinnen und Esten – von Erntehelfern bis Tierärzten – arbeiten auf der anderen Seite der Bucht, zahlreiche Finnen gehen bei den Nachbarn im Süden einkaufen, Touristen diesseits und jenseits der Meeresstraße begeben sich auf Tagestouren in die gegenüberliegende Stadt. Beide Länder sind aufgrund ihrer kulturellen Geschichte eng miteinander verbunden, ihre Sprachen sind eng verwandt und auch politisch sucht man aus Estland gern die Nähe des „großen Bruders“ im Norden. In den 1930er Jahren versuchten ich Intellektuelle gar an der Sprachbrücke über den Meerbusen.
An diesem Morgen Anfang März machte sich mein Finnischkurs der Universität Tallinn auf den Weg zu unserer eigenen Sprachbrücke in die Partnerstadt im Norden. Gerade einmal zwei Stunden dauert die Überfahrt. Genug Zeit, um sich vom einen oder anderen Kaffee des Frühstücksbuffets wecken zu lassen. Die Sonne geht gerade über der Küstenlinie von Tallinn auf. Einige Zeit später lassen die ersten vor dem Fenster des Frühstücksrestaurants auftauchenden Felseninseln erahnen, dass wir bereits finnische Gewässer betreten haben. Eine erste kurze Stadttour führt uns an wichtigen Sehenswürdigkeiten der finnischen Hauptstadt vorbei – die gewaltige, weiß strahlende Domkirche, den touristischen Markt am Hafen, den renovierten nationalromantischen Bahnhof, die Denkmäler russischer Zaren. Ebenso vielfältig wie das Stadtbild Helsinkis zeigt sich auch die Geschichte des einstigen Fischerdorfes, das sich durch die Zeiten schwedischer und russischer Herrschaft bis zu einer modernen europäischen Hauptstadt entwickelte. Unser erster Besuch gilt der Universität, in der wir auf Lernende eines Kurses für Finnisch als Fremdsprache und – wer hätte es gedacht – Sari Päivärinne treffen. Den meisten von Euch wird dieser Name vermutlich gar nichts sagen. Wer jedoch in Greifswald je einen Finnischkurs besucht hat, dürfte mit einer der Autorinnen des Standardlehrwerkes vertraut sein. Angespannt lauschen wir und lernen etwas über die Philologenausbildung vor Ort und die Universität im Allgemeinen. Bei unserer anschließenden Tour durch die Gebäude treffen wir auf nordische Vielfalt: sozialistisch anmutende modernistische Bauten, die DDR-Hörsälen in nichts nachstehen, zeitgenössische und vollausgestattete Bibliotheken, gemütliche Lernecken und ein reichhaltiges Mensaessen für wenige Euro.
Kurze Zeit darauf steht unser zweiter Tageshöhepunkt an, als wir uns vor einem grauen, kastenförmigen Monumentalbau einfinden. Nach einer kurzen Sicherheitskontrolle sind wir in der Eduskunta – dem finnischen Parlamentsgebäude. Unsere kompetente junge Reiseführerin leitet uns durch die vielen Ecken des riesigen Gebäudekomplexes, durch Gänge und an Büros vorbei, durch Wendeltreppen und in den großen Sitzungssaal. Wer optische Harmonie liebt, wird in diesem Haus glücklich. Bis auf wenige Ausnahmen sind Säle und Gänge im Haus exakt nach allen Regeln der Symmetrie gestaltet. Das gut erhaltene Mobiliar datiert teils bis auf den Bau des Parlamentes in den 1930er Jahren zurück. Gewürzt wird die Tour durch jede Menge Anekdoten und Besonderheiten, die wir aus den uns noch unbekannten finnischen Wörtern unserer Tourleiterin herauszulesen versuchen.
Am Abend, als wir wieder die Fähre erreichen, vergleichen wir ermüdet unsere Schrittzähler, die an diesem Tag ins Glühen gekommen waren. Unsere letzte Lektion betrifft die Fährkultur auf der Linie Helsinki-Tallinn. Viele finnische Touristen nutzen die Fährüberfahrt und den Tallinner Hafen, um sich mit alkoholischen Getränken, Süßigkeiten und Kosmetikprodukten einzudecken, die in Estland zwar teurer sind als z.B. in Deutschland, jedoch um ein Vielfaches günstiger als in Finnland sind. Und so tun wir es der lokalen Bevölkerung gleich und kaufen uns neben dem Abendessen noch das ein oder andere Bier aus dem Shop. Von den Wodka-Sparpacks, die mit 20-40 Litern auf einem festgebundenen Schubwagen verkauft werden, halten wir uns jedoch fern. Durch einen leichten Sturm dümpeln wir dabei auf hohen Wellen zurück Richtung Tallinn. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass es sich bei diesem Ausflug um unsere letzte Präsenzveranstaltung des Semesters handeln würde. Einen Tag später würde die Universität Tallinn uns in Quarantäne stecken.
Skype statt Vulkan, Wald statt Geysir
Vulkane gibt es nicht, Geysire auch nicht, dafür kann man jede Menge anderer Sachen entdecken. Wenn ich Menschen von Estland erzähle, dann kommt es nicht selten zum Missverständnis, das lange E verwandelt sich auf dem Weg zwischen meinem Mund und seinem/ ihrem Ohr zu einem langen I und bei meinem Gegenüber kommt „Island“ an. Wenn ich dann im weiteren Gespräch von der Nähe zu Russland und Finnland erzähle und eventuell noch, dass eine Busfahrt von Berlin nach Tallinn ca. 24 h dauert, kann ich anhand des Fragezeichensalates meist entdecken, woran der Kommunikationsfehler lag. Nein, ich befinde mich nicht im Land von Björk und Elfen, sondern im Land von Skype, Wald, Sümpfen und Musik.
Über einen Monat bin ich jetzt bereits in Tallinn - und nein, der estnische Winter hat mich nicht verschlungen. Der fällt nämlich in diesem Jahr ungewohnt mild aus und erinnert ungemein an das Greifswalder Wetter – von ein paar Tagen glitzerndem Schnee abgesehen. Auch ansonsten fällt mir die Eingewöhnung erwartbar leicht – nach meinem Schulabschluss habe ich bereits mein Auslandsjahr hier verbracht und bin damit mit Land und Leuten vertraut. Mein Erasmussemester an der Universität Tallinn sollte mich nun auch auf akademischer Ebene in das Land zurückführen, das ich zu lieben gelernt habe.
Als ich mich für Tallinn entschied, schauten mich viele meiner estnischen Freunde komisch an – schließlich gilt nicht Tallinn, sondern Tartu als geistiges Zentrum des Landes. Während Tartu auf hunderte Jahre akademische Geschichte zurückblicken kann, ging die Universität Tallinn erst 2005 aus dem ehemaligen pädagogischen Lehrerseminar hervor. Gemeinsam mit der Technischen Uni Tallinn bilden die beiden Unis die drei erfolgreichsten und größten Unis des 1,34-Millionen-Einwohner-Landes. Alle drei können wissenschaftlich überzeugen und liegen unter den weltweiten Top 5% der Unis nach dem Times-Ranking.
Für mich ist Tallinn trotz des Unverständnisses meiner Freunde die perfekte Wahl: Einerseits kenne ich den Süden des Landes wie meine eigene Westentasche, andererseits liegt Tallinn an der Nordküste an der idealen Schnittstelle meiner Fächer: gerade mal eine zweistündige Schiffsreise über den Meerbusen liegt Helsinki. Auch Sankt Petersburg ist nur einen Katzensprung entfernt und Tallinn ist zudem aufgrund der großen russischen Minderheit auch mit einem reichen russischsprachigen Kulturleben ausgestattet – jeder vierte Tallinner spricht zuhause Russisch. An kaum einer anderen Uni könnte ich auf dem gleichen Niveau alle meine drei Fächer Estnisch, Finnisch und Russisch in diesem Maße weiterentwickeln und so beschäftige ich mich hier neben Sprachkursen viel mit russischer und estnischer Linguistik, aber auch Wirtschaft, Anthropologie, Politik und Kultur – mein Stundenplan hüpft dabei zwischen vier Fremdsprachen hin und her. Neben der Uni kann man viel erleben – sei es auf den zahlreichen Erasmus-Veranstaltungen, in Museen und auf Konzerten oder beim estnischen Eurovision-Vorentscheid. Es bleibt spannend im Norden Europas. Freut euch auf tiefere Einblicke in ein Land, von dem ihr vielleicht bislang kaum etwas gehört habt!
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