COVID-19-Pandemie: Gesundheitspolitische Ziele und Maßnahmen aus Sicht der Klinischen Psychologie und Psychotherapie

Porträt von Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier, Foto: ©Janine_Wirkner
Porträt von Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier, Foto: ©Janine_Wirkner
Porträt von Dr. Janine Wirkner, Foto: ©Janine_Wirkner
Porträt von Dr. Janine Wirkner, Foto: ©Janine_Wirkner

Die COVID-19-Pandemie stellt nicht nur eine der weltweit größten Gesundheits- und Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts dar, sondern ist auch eine Herausforderung für die psychische Gesundheit. „Psychische Störungen haben eine längere Inkubationszeit. Auch wenn aktuelle Erhebungen noch den Eindruck erwecken, dass wir bislang verhältnismäßig gut durch die Krise gekommen sind, erwarten wir in absehbarer Zeit einen deutlichen Anstieg, insbesondere von Depressionen, Anpassungsstörungen, Angststörungen, und Traumafolgestörungen“, erklärt Professorin Eva-Lotta Brakemeier von der Universität Greifswald. Die COVID-19-Pandemie könne – das lehren Erfahrungen mit früheren Pandemien und Krisen – als ein neuer, einzigartiger und potenziell toxischer Stressfaktor interpretiert werden. „Wir gehen davon aus, dass der akute Bedarf an psychologischer Versorgung steigen wird“, sagt Professorin Silvia Schneider, Sprecherin der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie in der DGPs. „Gleichzeitig werden wir mit den aktuellen Versorgungskapazitäten und -formaten Probleme bekommen, diesen Bedarf zu decken.“

Behandlungsbedürftige Patient*innen brauchen einerseits zeitnah eine auf die aktuelle Krise zugeschnittene Therapie. Andererseits dürfen die bestehenden psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgungssysteme, einschließlich der psychosozialen Dienste nicht überlastet werden. Aus Sicht der Klinischen Psychologie und Psychotherapie sind daher folgende vier gesundheitspolitische Maßnahmen notwendig:

  1. Über die psychotherapeutische Sprechstunde hinaus sollten in der ambulanten Versorgung „Corona-Sprechstunden“ für Menschen mit durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten psychischen Belastungen (einschl. psychisch belasteten Betroffenen nach COVID-19-Erkrankungen) eingerichtet werden. Diese Sprechstunden sollten auch von approbierten Psychotherapeut*innen in verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitswesens (zum Beispiel Gesundheitsämtern) angeboten werden. Durch niederschwellige und kurze Angebote wie einmalige Beratungsgespräche und, wenn erforderlich, anschließende Akut- oder (interprofessionelle) Kurzzeitbehandlungen soll die Entwicklung von psychischen Störungen reduziert werden.
  2. Für Risikogruppen sollten vermehrt zielgruppengerechte, niederschwellige und barrierefreie Präventionsangebote, wie zum Beispiel Internetangebote, Telefonhotlines und Krisendienste entwickelt und finanziert werden. Auch wenn Risikofaktoren in einem dynamischen Zusammenspiel stehen, sollten insbesondere folgende Gruppen adressiert werden: Jugendliche und junge Erwachsene sowie die älteren Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen leben; Patient*innen, die an COVID-19 erkrankt waren; pflegende Angehörige und Pflegeberufe; weitere Gesundheits- und systemrelevante Berufe; Menschen, die von Arbeitslosigkeit und Existenzsorgen bedroht oder betroffen sind.
  3. Beim Ausarbeiten von Anti-Corona-Maßnahmen sollten politische Entscheidungsträger*innen auch der wissenschaftlichen Expertise unseres Faches und der angrenzenden Disziplinen stärker Gehör schenken, damit die dynamisch zusammenhängenden Risikofaktoren für psychische Störungen während der „zweiten Welle“ und dem weiteren Pandemie-Verlauf minimiert werden. Bei der Formulierung und Vermittlung der Kontakteinschränkungen sollte der Begriff „physical distancing“ (körperliche Distanzierung) an Stelle von „social distancing“ (soziale Distanzierung) in der Öffentlichkeit verwendet werden, um zu betonen, dass soziale und emotionale Nähe trotz Abstandregeln möglich sind.
  4. Die universelle Prävention sollte gestärkt werden, zum Beispiel anhand von digitalen Angeboten für die Allgemeinbevölkerung zu Schlafhygiene, Bewegung und Ernährung. Gleichzeitig sollten positive Aspekte und Chancen für die psychische Gesundheit stärker in den Vordergrund gerückt werden, wie zum Beispiel entstandene flexiblere Lösungen der Arbeitsgestaltung.

Die Autorinnen des Positionspapiers gehen davon aus, dass Innovationen und Fortschritte in der klinisch-psychotherapeutischen Praxis und Forschung, die aus den Erfahrungen mit dieser Krise resultieren, noch lange über die Pandemie hinaus Bestand haben werden. „Die COVID-19-Pandemie birgt daher auch die Chance, die etablierten Richtlinienpsychotherapien anzupassen sowie neue psychotherapeutische Ansätze und insbesondere digitale Formate einzusetzen“, sagt Eva-Lotta Brakemeier. Silvia Schneider resümiert: „Die Klinische Psychologie und Psychotherapie kann aufgrund ihrer ausgewiesenen Expertise im Bereich der psychischen Gesundheit zentrales Wissen für die erfolgreiche Bewältigung der COVID-19-Pandemie zur Verfügung stellen.“

Weitere Informationen

Das ausführliche Positionspapier kann hier abgerufen werden: https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1026/1616-3443/a000574  Es wurde verfasst von Eva-Lotta Brakemeier, Janine Wirkner, Christine Knaevelsrud, Susanne Wurm (Mitglied der DGPs-Fachgruppen: Entwicklungs- und Gesundheitspsychologie), Hanna Christiansen, Ulrike Lueken und Silvia Schneider.

Zu weiterführenden Beratungsangeboten:
www.psychologische-coronahilfe.de
www.familienunterdruck.de  

Die Fotos können für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit dieser Medieninformation kostenlos unter pressestelleuni-greifswaldde angefordert werden. Bei Veröffentlichung ist der Name der Fotografin zu nennen.


Ansprechpartnerin an der Universität Greifswald
Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier
Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie
Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP)
Telefon +49 3834 420 3718
eva-lotta.brakemeieruni-greifswaldde

Medieninformation


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