Rezeption des Werkes von Ernst Moritz Arndt

von Irmfried Garbe

1856 wurde Arndt als Vertreter der Philosophischen Fakultät auf das Greifswalder „Rubenow-Denkmal“ platziert, 1933 beantragte das Konzil der Universität bei der preußischen Staatsregierung, den Namen ihres einstigen Professors tragen zu dürfen. Der preußische König 1856 und der nationalsozialistische Ministerpräsident Hermann Göring 1933 akkreditierten die Greifswalder Beschlüsse. 1856 ging die Initiative von einem Kreis nationalliberaler Professoren aus, 1933 wurde sie von der Greifswalder Akademikergruppe des deutschnationalen „Stahlhelm“, dem Kampfbund deutscher Frontsoldaten, getragen. In beiden Fällen war der Vorschlag nicht unumstritten. 1933 befand man sich im Umfeld einer weitgehenden Selbstgleichschaltung der deutschen Universitäten.

Nachdem die politische Zäsur des Zweiten Weltkrieges hinsichtlich des Universitätsnamens zur Verunsicherung geführt hatte, wurde Arndt Anfang der 1950er Jahre in neuer Weise entdeckt und wertgeschätzt. Die offizielle Billigung der Wiederaufnahme seines Namens im Universitätstitel erfolgte 1954.
Motive, Gründe, Vorstellungen und Kontexte dieser Arndt-Ehrungen waren jeweils andere. 1856 dachten die Professoren an den nationalliberal bewegten Kollegen, Dichter, Publizisten und 1848er. Die Männer von 1933 evozierten den Vordenker des nationalen Befreiungskampfes gegen Napoleon. Die akademischen Männer und Frauen von 1954 stellten den Demokraten und Verfechter freier Menschenrechte gegen die Leibeigenschaft und ihre Folgen voran. Was alle drei Zeiten trotz unterscheidbarem Bezug auf den historischen Menschen eint, war das breit tradierte Wissen um den aus Pommern stammenden Schriftsteller Arndt als nationales Symbol. Arndt bot sich 1856, 1933, 1954 als deutschlandweit bekanntes Landeskind an. Die Schattierung des Symbols machte allerdings erhebliche Wandlungsprozesse durch: 1856 war er der liberale Mahner der noch ausstehenden nationalen Einigung, 1933 stand er für den Protest gegen die deutsche Weltkriegsniederlage, 1954 repräsentierte er den Gedanken nationaler Einheit angesichts der deutsch-deutschen Teilung. Dabei verwendete die Universität gegenüber der DDR-Regierung auch das Argument, dass Arndt mitgearbeitet hatte, als 1812 in St. Petersburg unter russischer Hilfe eine deutsche Legion gegen Napoleon aufgestellt worden war.

Weite und Vielfalt seines publizistischen Werkes haben über die Zeiten hin unterschiedliche Arndt-Bilder und Arndt-Rezeptionen hervorgerufen.
Die Rezeptionsphasen lassen sich in ihren charakteristischen Erscheinungen versuchsweise skizzieren. Für die jeweilige Phase wird nach Möglichkeit auf Publikationen hingewiesen, in denen typische Züge bzw. Veränderungen des Arndt-Bildes nachvollzogen werden können. Es geht hier nur um eine pointierte Skizze signifikanter Wandlungen des öffentlich wirksamen Arndt-Bildes. Davon abzuheben ist die weit ausgreifende und zeitweilig hochspezialisierte Arndt-Forschung, die in sämtlichen Phasen ein differenzierteres Bild ergibt, als es hier in Kurzform skizziert werden kann. In ihren Grundzügen trägt allerdings auch die historisch-kritische Forschung kollektiven Rezeptionsbedingungen Rechnung. Die mitgeteilten Publikationsangaben berücksichtigen nur sachlich ernst zu nehmende Veröffentlichungen. Das weite Feld der Trivialdarstellungen bedarf einer gesonderten Betrachtung.

Bis zur Reichsgründung 1870: „Der liberale Patriot“

Seit der Publikation des ersten Bandes von „Geist der Zeit“ (1806) bis hin zu den „Wanderungen und Wandlungen mit dem Reichsfreiherrn vom Stein“ (1858) wird Arndt schon zu Lebzeiten deutschlandweit als politischer Publizist zur Kenntnis genommen. Seine lange, schriftstellerisch produktive Zeitgenossenschaft bedingt Aufmerksamkeitswechsel, sowohl im Werk Arndts selber als auch des Lesepublikums gegenüber seinem Werk. Sein umfangreicher Bekanntenkreis ist generationen- und professionsübergreifend; Politiker wie Karl Josias von Bunsen sind darin ebenso vertreten wie zahlreiche Gelehrte, Künstler und Literaten. In der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 ehrt man ihn für seine vergangenen Leistungen, er selbst schätzt seinen Einfluss auf das Gremium als gering ein. Die bleibende Hoffnung auf eine Einigung Deutschlands unter liberalem Vorzeichen aber hält Arndts Gedächtnis über den Tod hinaus wach. Obwohl er teil- und zeitweise kritisch betrachtet wurde – besonders von Konservativen, aber beispielsweise auch von radikaleren Vertretern des ehemaligen Vormärz –, bewirkt sein schließlich 1860 erfolgter Tod eine gewisse Verklärung. Das Wissen um Arndts 20jähriges Bonner Berufsverbot festigt das Bild des ehrwürdigen liberalen Patrioten, der den Nationalgedanken mit einem Kampf um Presse- und Meinungsfreiheit tapfer vorgetragen habe, auch als das aus Opportunitätsgründen nachteilig sein musste. Kurzbiographien von prominenten liberalen Literaten wie die von Gustav Freytag in der Allgemeinen Deutschen Biographie (1875), Rudolf Haym in den Preußischen Jahrbüchern (1860) oder Daniel Schenkel (1866) bezeichnen das typische Arndt-Bild der liberalkonservativen Ära und ihres allmählichen Ausklangs. Die Arndt-Denkmäler in Greifswald (1856) und Bonn (1865) unterstreichen seine damals weithin beachtete Symbolkraft. Germanisten nahmen Arndts publizistisches Werk seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in die deutsche Literaturgeschichte auf. Das bereitete seine folgende Rezeption als politischer Nationaldichter bzw. als „das gute deutsche Gewissen“ vor.

Bis zum Ersten Weltkrieg: „Das gute deutsche Gewissen“

Während des Deutschen Kaiserreiches wird Arndt Gegenstand der Schulbildung. Damit beginnt zugleich die Geschichte einer verengten Kenntnisnahme Arndts. Im Zentrum stehen Werkausschnitte: fast ausnahmslos Beiträge und Beitragssplitter aus der Periode der anti-napoleonischen Kriege. Der Phase der Befreiungskriege werden auch seine Dichtungen unter- und zugeordnet. Arndts Kriegsgedichte bestimmen die längste Zeit das volkstümliche Arndt-Bild. Aus dem Spätwerk werden fast nur historisch-politische Beiträge zitiert, das wissenschaftliche Frühwerk bleibt weitgehend ausgespart. Ähnlich marginal bleiben die Denkschriften und Kleinstudien des mittleren Arndt. Die Konzentration auf den Teilnehmer der Befreiungskriege spiegelt sich schließlich auch in der Anlage der drei bildprägenden Werkausgaben, die zwischen 1892 und 1912 in Angriff genommen werden, aber unvollständig bleiben. Eine historisch-kritische Gesamtausgabe ist trotz mehrerer Anläufe bis heute nicht erfolgt. Die Nationalisierung Arndts unter Perspektive der borussisch-reichsdeutschen Geschichtsschreibung führt nachhaltig zu einem Verschwinden seiner geistesgeschichtlichen Vernetzungen in die französische Philosophie wie auch in die liberalen Debatten der 1830er bis 1850er Jahre. Übrig bleibt der politische Nationaldichter, wie ihn etwa Rudolf Thiele 1894 popularisiert, aber auch Ernst Müsebeck in seiner unvollendeten Arndt-Biographie von 1914 zeichnet. Müsebeck gestaltet ein voluminöses Postament, das seinen Helden bis 1815 zeichnet. Im Rahmen weiter gespannt und tendenziell differenzierter erscheint demgegenüber die Kurzbiographie des Germanisten und Arndt-Herausgebers Robert Geerds (1912) oder die feinsinnige Arndt-Würdigung von Victor Klemperer in der bürgerlichen Zeitschrift „Grenzboten“ (1909). Mit der Vorlage der Werkausgaben von Rösch, Meisner und Geerds, Leffson und Steffens wird Arndt seit den 1890er Jahren Gegenstand spezialisierter akademischer Forschungen, die sich kaum auf das öffentliche Arndt-Bild auswirken.

Während des Ersten Weltkriegs: Der „anspornende Mitkämpfer“

Der Arndt des Ersten Weltkrieges ist eine Gestalt der Mobilmachungs- und Durchhaltepropaganda. Alle differenzierten Töne Arndts werden zugunsten herausgegriffener, einzelner „Kraftworte“ getilgt. Deren tausendfache Zitation in der deutschen Presse macht aus Arndt einen zuversichtlichen Weltkriegsteilnehmer und Propagandisten des Siegfriedens. Die letzten Reste des altliberalen Arndt-Bildes werden durch diese massenhafte Präsentation isolierter Einzelaussagen nachhaltig aufgelöst. Seine zeitgeschichtliche Verwertung im Bilde des populistischen Kriegsteilnehmers erzeugt ein neues kollektives Arndt-Bild, dessen Tendenzgeschichte auch in der wissenschaftlichen Arndt-Literatur während der beiden anschließenden Phasen nachklingt.

Weimarer Republik: Der regionalisierte Intellektuelle

In der Zeit der Weimarer Republik vervielfachen sich die Arndt-Bilder. Die wissenschaftliche Forschung ist kaum publikumswirksam und findet höchstens im regionalen Zuschnitt Beachtung. Im kulturellen Gedächtnis bleibt das Bild des nationalbewegten Kämpfers zentral. Rezeption und Forschung sind überwiegend politisch geprägt – eine Folge des verlorenen Weltkrieges. Unter den anerkannten Arndt-Spezialisten überwiegt eine deutschnationale Orientierung, wie sie sich in der Tendenz etwa an Studien Erich Gülzows zeigt. Der staatsrechtliche Charakter der neuen Republik sorgt andererseits dafür, dass Arndt in seiner intellektuellen Vielseitigkeit wahrgenommen werden kann. Es erscheinen mehrere Quelleneditionen, die die Grundlage vertiefter Forschung werden. Die internationale Vernetzung Arndts wird erstmals genauer untersucht, wie beispielsweise durch Richard Wolfram in Richtung Schweden (1926/1933). Für die Entdeckung der Vielseitigkeit Arndts steht auch die bemerkenswerte Arndt-Rede von Friedrich Gundolf (1924). Die schulische Arndt-Rezeption nimmt infolge neu geschriebener Lehrbücher deutlich ab, bleibt aber im verminderten Maße bestehen. Die öffentliche Wahrnehmung Arndts verlagert sich: Erinnerung und Forschung werden zunehmend regionalisiert; sein Gedächtnis wird vor allem im Rheinland und in Pommern gepflegt. Gegen Ende der Weimarer Republik entstehen Arndt-Museen in Bonn (1933) und in Garz auf Rügen (1929/1936). Straßen, Plätze und Schulen erhalten während der 1920er seinen Namen und tragen ihn in den öffentlichen Raum, unterstreichen aber ebenfalls den regionalen Schwerpunkt der Rezeption.

Nationalsozialismus: Der nationale „Prophet“

Trotz einer sich auch während des „Dritten Reiches“ weiter differenzierenden Arndt-Forschung, zu der überraschend viele wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten gezählt werden können, erstarrt das öffentliche Arndt-Bild unter politischem Vorzeichen. Im Zusammenhang mit dem seit 1919 wirkenden Anti-Versailles-Komplex und besonders mit dem ab 1935 erfolgenden Aufbau der Wehrmacht wird Arndt als nationaler Prophet des deutschen „Wiederaufstiegs“ reklamiert und in die zeitgenössische Propaganda eingebaut. Trotz des weiterhin häufigen öffentlichen Gebrauches gehen Kenntnisse und Lektüren seines Lebens und publizistischen Werkes zurück. Arndts öffentlicher Gebrauch beschränkt sich erneut in aller Regel auf Versatzstücke aus Zitatensammlungen. Verschiedene Autoren bemühen sich um den Nachweis, dass Arndt „völkische Glaubenskraft“ bewiesen habe (Paul Ruth 1944) und in „den Stilen der Kunstgeschichte die Stile der Rassenseelen“ wiedergefunden habe (Richard Weigand 1941). Gleichzeitig wird er zur Projektionsfläche konkurrierender Ansichten: während manche demonstrieren, dass Arndt zwischen Christentum und Germanentum eine weitgehende Übereinstimmung gefunden habe (Ibo Ibbeken 1937), reklamieren ihn evangelische Theologen wie Theodor Heckel (1939) als nationalen Vorbild-Christen gegenüber dem antichristlichen Weltanschauungskampf des Nationalsozialismus oder verteidigen ihn gegen Vereinnahmungen durch das nazistische Neuheidentum (Eugen Gerstenmaier 1936). Außerdem setzt sich die Tendenz zur regionalisierten Arndt-Gedächtnispflege fort. An der Greifswalder Universität wird eine historisch-kritische Gesamtausgabe geplant, deren Vorbereitungen durch den Zweiten Weltkrieg gestört und schließlich zerschlagen werden.

In der deutschen Zweistaatlichkeit

Der politische Gebrauch Arndts in der Phase des Nationalsozialismus führt zu einer Karenzphase und schließlich zu einer kritischen Revision des Arndt-Bildes der vorherigen Zeit. Aus den Schullesebüchern verliert sich die Spur Arndts bald ganz. Arndt-Forschung findet nur in deutlich verminderter und fast vollständig regionalisierter Weise statt. Dabei entwickelt sich die Arndt-Rezeption in beiden deutschen Staaten unter den politischen und kulturpolitischen Rahmensetzungen auf getrennten Wegen. Aus den Forschungsergebnissen, die während dieser Phase gewonnen werden, ragt die komplex angelegte Arndt-Biographie von Günter Ott heraus. Obwohl in der DDR erarbeitet, konnte sie nur in der Bundesrepublik erscheinen (1966). Arndt ist bereits in dieser Phase eine weithin nur noch klischeehaft bekannte Gestalt. Eine intensive Auseinandersetzung findet trotz bemerkenswerter Forschungsleistungen wie der genannten von Ott weder in der Bundesrepublik noch in der DDR statt. Arndt-Spezialisten wie Albrecht Dühr können zwar noch die große Edition der Briefe Arndts vorlegen (1972-1975), doch führt dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert Projekt zu keinen Folgeuntersuchungen. Die in beiden deutschen Staaten rezipierten Bilder differieren seit den frühen 1960er Jahren eklatant.

DDR: „Der bürgerliche Demokrat“

Im Zuge der forschungsprägenden „Erbe-Rezeption“ der DDR-Geschichtspolitik wird Arndt unter Perspektive „fortschrittlicher“ Traditionen eingeordnet, aber im Wesentlichen auf den regionalen Horizont beschränkt. Über mehrere Stufen popularisierender Erbe-Forschungsbemühungen führt der Weg schließlich bis zum Gedenkheft der Ernst-Moritz-Arndt-Universität anlässlich Arndts 125-jährigen Todestages (1985).

BRD: Der „Nationalideologe“

In der Bundesrepublik findet eine eigenständige Behandlung Arndts – abgesehen von einigen Traditionspflegepublikationen – auffallend sparsam statt. Eine der bemerkenswerten Ausnahmen bildet der Münchner Arndt-Vortrag von Hellmut Diwald (1970), der die klischeehafte Tendenz der westdeutschen Arndt-Wahrnehmung kritisch rekapituliert. Die generalisierte Wahrnehmung des „Nationalideologen“ Arndt, die sich im kritischen Rekurs auf die Entwicklungsgeschichte des NS seit den frühen 1960er Jahren gebildet hatte, bleibt im bundesdeutschen Geschichtsbild unverändert wirksam bis weit über 1989/90 hinaus. Einen neuen Aspekt steuert die anregende Studie über das „Vaterland der Feinde“ von Michael Jeismann bei, indem sie als einen universalen Vorgang kennzeichnet, dass nationale Identität ein negatives Gegenbild benötige (1992).

In der neuen Bundesrepublik ab 1990: Der umstritten Vielgesichtige

Der Publizist und Schriftsteller Arndt wird weithin nicht mehr gelesen. An diesem Zustand hat auch die nach der Wiedervereinigung gegründete Arndt-Gesellschaft (1992) nichts ändern können. Immerhin stellt sie den derzeit einzigen periodisch erscheinenden Resonanzboden gelegentlich stattfindender Arndt-Forschung bereit. Wo solche Forschung im eigentlichen Sinne betrieben wird, geschieht das spontan und weithin jenseits größerer Forschungszusammenhänge. Die Ernst-Moritz-Arndt-Universität ist bislang als Arndt-Forschungsstätte kaum aufgefallen. Ein erster internationaler Versuch neuer Arndt-Entdeckungen steht im Zusammenhang jüngster deutsch-amerikanischer Arndt-Brieffunde. Diese führten zu einer Konferenz in Kansas (2006), deren Ergebnisse inzwischen unter dem Titel „Ernst Moritz Arndt: deutscher Nationalismus - Europa - transatlantische Perspektiven“ (2008) publiziert sind. Sachlogisch zur Vorphasenentwicklung kursieren deutlich differierende Arndt-Bilder, wie sich an diesem entsprechend disparaten Titel zeigt. Einen typischen Querschnitt der weit auseinanderliegenden Wahrnehmungsvielfalt bieten auch die Hefte 7 und 8 der Arndt-Gesellschaft „Arndt im Widerstreit der Meinungen“ (2000/2003). In den letzten Jahren gibt es eine gewisse Belebung der Arndt-Forschung. Sie ist mit motiviert von den kritischen Infragestellungen öffentlicher Arndt-Ehrungen insbesondere in Gestalt von Namensgebungen wie der Greifswalder Universität. Inwieweit die jüngste Arndt-Forschung zu Differenzierungen des überwiegend polemischen Arndt-Bildes führen wird oder kann, ist derzeit offen.