Seit der bahnbrechenden Studie über die Verhaltenslehren der Kälte dominiert innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften die These, die Gesellschaft und Kultur der Weimarer Republik seien als epochaler Zusammenhang zu bestimmen, in dem soziale Beziehungen im Modus der Distanz begangen und dargestellt wurden. Helmut Lethens Rekonstruktion der anthropologischen und kulturkritischen Diskurse der 1920er Jahre und seine pointierten Analysen literarischer Texte finden in der 'kalten Persona' eine wiederkehrende Formierung von Individualität, der im sozialen Umgang Praxen des Gesichtswahrens, der Grenzziehung und Verhärtung entsprechen.
Zugleich war die Weimarer Republik jedoch nicht nur eine Epoche kalter Sachlichkeit, die auf den tönernen Füßen der ersten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie als Ergebnis eines komplizierten und (für viele) schmerzhaften politischen Kompromisses stand. Auch schrieb diese Republik dem Sozialstaat erstmals Verfassungsrang zu und versprach die Sozialpolitik auszuweiten und öffentliche Wohlfahrt zu garantieren.
Ausgehend von der Annahme, dass die Weimarer Republik als Epoche innerer Wiedersprüche und andauernder Destabilisierungen mit Theoriemodellen der Prekarität neu in den Blick genommen werden kann, liegt der Fokus des Workshops auf den literarischen und filmischen Verarbeitungen von Care-Arbeit, Fürsorge und Zärtlichkeit sowie verwandten sozialen Praxen der Nähe und Solidarisierung. Denn diese wurden, so unsere Grundannahme, in der zeitgenössischen Kultur ebenso zum Thema gemacht wie die ‚kalte persona‘ und sind deshalb für die Beschreibung einer epochenspezifischen Signatur nicht weniger prägend.
Neben Beiträgen zur Philosophie der Sorge, zur Geschichte medizinischer Fürsorge und zur Soziologie von Berührung bilden literaturwissenschaftliche Einzelstudien zeitgenössischer Autor*innen Schwerpunkte des Workshops. Konzeptuell soll an aktuelle Forschungen der Gender Studies (Butler, Dufourmontelle, Hark, Klinger) und deren Analysen des Zusammenhangs von Gesellschaft, Geschlecht und Fürsorge angeknüpft werden. Ebenso greifen wir Modelle politischer Strukturen und gesellschaftlicher Verknüpfungen auf, die ihren Ausgangspunkt in intersubjektiven Beziehungen und Sorge-Konstellationen finden (Barthes).
Der Workshop ist interdisziplinär angelegt und begreift sich als ein Beitrag zum Verhältnis von Geschichts-, Literatur- und Medienwissenschaft im Kontext von Geschlechterforschung. Er fragt nach der Reichweite und Tragfähigkeit bisheriger Epochenbeschreibungen sowie ihrer Verbindung zu historischen Entwicklungen und lotet zugleich neue Perspektiven auf das Verhältnis von Literatur und epochentypischen Identitätszuschreibungen aus. Dabei geht es schließlich auch darum, aktuelle Theoriedebatten im Hinblick auf historische Phänomene zu diskutieren und sie in dieser Kontextualisierung zu erproben.
Anmeldung per E-Mail: izentrumuni-greifswaldde